Rien ne vas plus: Dostojewskis Spielsucht – Gierig nach der weißen Kugel
von Dr. Bert Kellermann (Zuerst erschienen in „rausch – Wiener Zeitschrift für Suchttherapie“, 3 / 2011, S. 27 f)
Vor 30 Jahren war in Deutschland das Glückspielangebot überschaubar; dementsprechend wurde kaum ein Bürger spielsüchtig. Dennoch war das Krankheitsbild bekannt: Viele Leute hatten nämlich Dostojewskis Roman »Der Spieler« gelesen – und sein Autor wusste, wovon er schrieb.
Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 bis 18881) war ein süchtiger Glücksspieler. Er geriet durch das verlockende, zeitgenössische Glücksspielangebot in Deutschland in diese Abhängigkeit. Während es in Russland keine Spielcasinos gab, existierten in Deutschland damals Casinos in fünf mondänen Kurbädern. Hauptsächlich wurde dort Roulette gespielt, als Unterhaltung für die vermögenden, insbesondere ausländischen Kurgäste.
Die Reise mit Polina
1863 plante der damals 42-jährige Dostojewski mit seiner Freundin, der Studentin Polina, eine Reise von Paris nach Italien. Polina studierte in Paris. Dostojewski, der oft in Geldnöten war, machte auf der Fahrt zu ihr einen Abstecher nach Wiesbaden zum Roulettespielen im dortigen Casino. Bei diesem ersten Casinobesuch war dem Autor das fatale Anfängerglück hold. Die Reise mit Polina führte – bestimmt nicht zufällig – von Paris zunächst wieder nach Wiesbaden und dann nach Baden-Baden, ebenfalls ein Casino-Ort. Dort schrieb Polina in ihr Tagebuch: »Er spielt fortwährend Roulette …« Offenbar verlor Dostojewski auch, denn die beiden mussten sich Geld leihen, um ihre Reise fortzusetzen.
Nachdem sein Bruder Michail ihm in einem Brief Vorwürfe gemacht hatte (»hör um Gotteswillen auf zu spielen, wo soll das hinführen«), schrieb Dostojewski ihm über seine Verluste beim Roulette: »Wir zitterten jeden Augenblick, dass uns im Hotel die Rechnung präsentiert werde und wir ohne einen Groschen sein könnten. Ein Skandal, die Polizei drohte … Scheußlich! Meine Uhr habe ich noch in Genf … versetzt … Polina hat einen Ring versetzt … Mischa, in Wiesbaden habe ich ein Spielsystem erfunden … habe zehntausend Francs gewonnen! … NB. Von meiner Lage erzähle niemandem. Meine Spielverluste sollen ein Geheimnis bleiben.«
Nach der Reise mit Polina fuhr Dostojewski nicht nach Russland zurück, sondern zunächst zum Casino in Homburg. Kurz danach vertraute Polina ihrem Tagebuch an, Dostojewski habe sie gebeten, wegen seiner Spielverluste eine Uhr und eine Kette zu versetzen.
Der Reinfall von Wiesbaden
Zwei Jahre später, im Juli 1865 wollte Dostojewski mehrere Monate mit Polina in Paris verbringen. Er reiste jedoch zunächst nur bis Wiesbaden, Polina folgte ihm dorthin. Innerhalb von nur fünf Tagen verlor er sein gesamtes Geld einschließlich das für die Hotelkosten sowie die Weiter- und Rückreise vorgesehene. Er schrieb: »Ich bin pleite bis aufs letzte Hemd – sogar meine Uhr habe ich verspielt, und im Hotel schulde ich Geld.« Als ein Freund ihm endlich Bargeld schickte, nahm es der Hotelwirt gleich an sich; er hatte Dostojewski bereits mit einer Anzeige bei der Polizei gedroht.
Neuer Versuch
Dostojewskis »Der Spieler« basiert auf seinen Roulette-Erlebnissen in Wiesbaden und Baden-Baden. Für das Romanprojekt ließ er sich von einem Verleger – wie üblich – einen Vorschuss geben. Zu Beginn der Niederschrift des Romans 1866 stand Dostojewski bereits unter massivem Zeitdruck: Wenn er den vereinbarten Abgabetermin nicht einhalten konnte, hätte dies durch den Verlagsvertrag bittere Konsequenzen gehabt. Diesmal hatte er wirkliches Glück: Anna trat in sein Leben. Sie war ihm empfohlen worden als tüchtige Stenografin. Mit ihrer Hilfe schaffte er es innerhalb von 24 Tagen tatsächlich, den »Spieler« zu diktieren und den Abgabetermin – wenn auch knapp – einzuhalten.
Man kann wohl sagen, dass die 20-jährige Anna – sie wurde Dostojewskis zweite Frau nicht nur in seiner aktuellen Notsituation, sondern für sein weiteres Leben sein großes und wirkliches Glück war. Sie wurde zunehmend die Managerin des ziemlich schlecht organisierten Dichters und schaffte es im Laufe der Zeit, dass er nach und nach aus dem ständigen Schuldendruck herauskam.
Die Hochzeitsreise führte zunächst wieder nach Deutschland. Geplant war eine Reisedauer von wenigen Monaten, sie kehrten jedoch erst nach vier Jahren zurück – kurz bevor 1871/72 in Deutschland alle Casinos geschlossen wurden. Es sind Briefe von Dostojewski aus diesen vier Jahren und ebenso Annas in Stenografie geführtes Tagebuch erhalten. Letzteres ist ein erschütterndes Dokument, aus dem sich unmittelbar und eindringlich miterleben lässt, wie ein süchtig gewordener Mensch wie Dostojewski seine Abhängigkeit ausgeliefert ist, und wie sehr dadurch seine Nächsten leiden. Dostojewski kam offensichtlich nicht los vom Roulette, trotz aller negativen Erfahrungen, trotz aller bestimmt ehrlich gemeinten Vorsätze.
Dostojewski in Homburg
Aus Dostojewskis Sicht war mehr denn je ein fetter Gewinn beim Roulette seine einzige Chance, seine hohen Schulden zurückzahlen zu können. Aus dieser (kranken) Logik heraus ließ er seine junge Ehefrau bereits drei Wochen nach der Ankunft in Dresden allein zurück und fuhr nach Homburg zum Casino. Er wollte eigentlich nur zwei bis Tage wegbleiben, kam jedoch erst nach acht Tagen zurück. Aus Homburg schrieb Dostojewski nach Dresden an seine Frau liebevolle Briefe, in denen er auch über sein Verhalten reflektierte. Noch war er zeitweilig fähig zur rationalen Distanzierung vom Roulette, aber bereits kaum mehr zum rationalen Handeln. »Die ganze Nacht habe ich von Dir geträumt … Aber da war das Spiel, von dem ich mich nicht losreißen konnte.«
Dostojewski spielte – das wird aus seinen Briefen deutlich – immer noch in der Überzeugung, mithilfe seines Systems einen großen Gewinn erzielen zu können. Seine Briefe zeigen: Das Glücksspiel ist für ihn kein Freizeitvergnügen, sondern eher eine lästige und anstrengende Arbeit, die er erledigen muss.
Dostojewski hatte seine Uhr versetzt, um seine Heimfahrt finanzieren zu können, verspielte das Geld jedoch und gewann einen Teil davon zurück. Doch am Morgen ging er wieder ins Casino und verspielte alles, sodass er kein Geld mehr für die Heimfahrt und die Hotelrechnung hatte. Er schwankte zwischen dem Drang zum Glücksspielen und der Sehnsucht nach seiner Frau hin und her. Doch das Verlangen zu Spielen war stärker. Aus Annas Tagebuch-Notizen wird deutlich, wie sehr sie in dieser Zeit gelitten hat.
»Es blieben uns nur noch 5 (Goldstücke) … Schließlich kehrte er zurück und gestand mir, er habe seinen Ehering verpfändet und alles Geld verspielt, was er gehabt habe. Er bat mich, ihm noch 3 zu geben, um den Ring auszulösen, sonst verfalle er … Sechsundvierzig neue Goldstücke, eine ganze Börse voll Geld! Ich war so glücklich, weil damit unsere Existenz wenigstens etwas besser gesichert war.« Anna Grigorjewna Snitkina, Dostojewskis Ehefrau
Fjodor Dostojewski an seine Frau:
» Homburg, 24. Mai 1867 Anja, Liebe, … verzeih mir, nenne mich nicht Schuft! Ich habe ein Verbrechen begangen, ich habe alles verspielt, was Du mir (für die Heimreise) geschickt hast, alles, alles bis auf den letzten Kreuzer, gestern habe ich es bekommen und gestern verspielt! Anja, wie soll ich Dir jetzt in die Augen sehen? … Als ich gestern das Geld erhalten … hatte, ging ich mit dem Gedanken hin, wenigstens etwas zurückzugewinnen, unsere Mittel wenigstens ein bisschen aufzubessern … spielte ich schon notgedrungen weiter, um wenigstens das für die Abreise erforderliche Geld zurückzubekommen, und – habe alles verloren. … Anja, wenn ich nur Deine Liebe nicht verliere! …«
Dostojewski und seine Frau in Baden-Baden
Nachdem Ende Juni 1867 eine größere Geldsendung eingetroffen war, konnten die Dostojewskis weiterreisen, zunächst bezeichnenderweise nach Baden-Baden. Dort blieben sie wesentlich länger als geplant. In Baden-Baden bekommt Anna nun unmittelbar mit, wie Dostojewski spielt. Klugerweise übernahm sie die Verwaltung des Geldes.
Aus Annas Memoiren: »Wir hatten verhältnismäßig wenig Geld und keinerlei Möglichkeit, im Falle eines Misserfolgs welches zu bekommen. Innerhalb einer knappen Woche hatte Fjodor Michailowitsch alles Bargeld verspielt, und nun begannen die Aufregungen, woher neues beschaffen, um weiterspielen zu können. Man musste Sachen versetzen. Aber auch jetzt konnte mein Mann nicht an sich halten und verspielte mitunter alles, was er soeben für einen versetzten Gegenstand erhalten hatte. Bisweilen verspielte er beinahe den letzten Taler, plötzlich war das Glück wieder auf seiner Seite, und er brachte einige Dutzend Friedrichsdor nach Hause … Doch dieses Geld blieb nicht lange in unseren Händen … Erneut folgten Verpfändungen, aber da wir wenig wertvolle Dinge besaßen, versiegten diese Quellen bald. Indessen wuchsen die Schulden und wurden spürbar, da wir bei der Wohnungswirtin Schulden machen mussten, einer zänkischen Frau.«
Anna litt damals unter Schwangerschaftsbeschwerden wie Erbrechen. Noch wesentlich mehr litt sie durch die Sucht ihres Mannes. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass sie zeitweilig präsuizidal war: »Er war furchtbar verstört. Mir war sofort klar, dass er wohl die 10 Goldstücke verspielt hatte … Er bat mich um weitere 5, die ich ihm sofort gab. Er dankte mir überschwänglich, als ob ich ihm eine Wohltat erwiesen hätte … Er sagte mir, dass er … an die vierhundert Franken gewonnen habe, dass er aber noch mehr habe gewinnen wollen und sich nicht rechtzeitig vom Spiel losgerissen habe. Das quälte ihn sehr. Ich versuchte ihn zu trösten … Armer Fedja, wie Leid tat er mir!!«
»Heute Morgen hatten wir noch 20 Goldstücke – eine allzu geringe Ressource, aber vielleicht geht es ja wieder aufwärts … Als er dann schließlich auftauchte, hatte er auch diese Goldstücke verspielt und bat mich nun, ihm sofort Gegenstände zum Verpfänden zu geben. Ich nahm meine Ohrringe und meine Brosche ab und sah sie mir lange, lange an, als sähe ich sie zum letzten Mal. Das war mir sehr schmerzlich, da Fedja sie mir geschenkt hat und sie mir so teuer sind. Fedja sagte mir, es tue ihm weh und er schäme sich … Er sagte mir, dass er alles verspielt hatte, sogar das Geld, das er für die verpfändeten Ohrringe bekommen hatte … Heute morgen, als wir noch 20 Goldstücke hatten, hätten wir aus Baden-Baden abreisen sollen.«
»Ich war überglücklich, dass wir endlich diese verfluchte Stadt verließen, ich bin sicher, dass ich nie mehr hierherkommen werde. Auch meinen Kindern werde ich verbieten, nach Baden-Baden zu fahren, soviel Kummer hat mir diese Stadt gebracht.«
Rückfälle
»Man musste sich damit abfinden, die Spielsucht als eine Krankheit anzusehen, gegen die es kein Mittel gibt. Die einzige Methode des Kampfes ist – Flucht.« Anna Grigorjewna Snitkina, Dostojewskis Ehefrau
In den folgenden Jahren hatte Dostojewski fünf Rückfälle. 1871 wurden in Deutschland – wie vorher schon in Frankreich – wegen der glücksspielbedingten psychosozialen Probleme alle Casinos geschlossen. Dostojewski kehrte mit seiner Familie nach Russland zurück. Später war er noch einige Male wegen seiner Raucherbronchitis (er war auch nikotinsüchtig) in einem deutschen Kurbad. Rückfällig in seine Glücksspielsucht wurde er nicht: Er hatte gar keine Möglichkeit dazu. Durch das Verbot von Glücksspielen mit hohem Sucht- und Schadenspotenzial wurden in Deutschland nur noch sehr wenige Menschen glücksspielsüchtig, bis vor etwa 30 Jahren. Frühere Generationen haben Suchtprobleme wirksamer bewältigt als wir. Haben wir gegenüber der Suchtepidemie unserer Zeit resigniert?
Literatur:
„Der Spieler und seine Frau„, Kellermann, Bert, Paperback, 328 Seiten, BoD, ISBN 978-3-8391-1213-7, € 17,50
Dr. Bert Kellermann ist Psychiater i. R., war 20 Jahre lang Chefarzt der Suchtabteilung im Krankenhaus Hamburg-Ochsenzoll.