Der langjährige Hamburger Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Suchtpsychiater Dr. Bert Kellermann hat eine Reihe von wichtigen Aufsätzen zu Suchtfragen veröffentlicht. Mit seiner freundlichen Genehmigung dokumentieren wir diese nach und nach an dieser Stelle. Den Beginn macht eine Veröffentlichung aus dem Ärzteblatt 02 / 2014 zum so genannten „Eppendorfer Suchtbegriff“.
Der alte „Eppendorfer Suchtbegriff “ bringt mehr Klarheit
Für die Weiterentwicklung des Suchtbegriffs hält der Hamburger Suchtmediziner Dr. Bert Kellermann die bisherige Definition in der ICD-10 für ungeeignet. Er fordert eine stärkere Betonung der psychischen Abhängigkeit – so wie sie Eppendorfer Experten bereits vor Jahren beschrieben hatten.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung stellte anlässlich der Veröffentlichung des Drogen- und Suchtberichts 2013 fest: „Auch Erwachsene mit riskanten Konsummustern müssen viel früher mit präventiven Maßnahmen erreicht werden, damit sich aus riskantem Verhalten keine manifeste Abhängigkeit entwickelt. Deshalb ist die Frühintervention durch Ärzte und ärztliches Pflegepersonal besonders wichtig, sowie die gezielte Suchtprävention.“
Sucht-Frühintervention, vor allem von Krankenkassen finanzierte, erfordert einen Suchtbegriff, der auch für eine frühe Sucht Diagnose brauchbar ist. Sucht im Sinne psychischer Abhängigkeit ist, wie alle psychopathologischen Phänomene, schwer zu definieren. Für den ICD-11Suchtbegriff, der jetzt erarbeitet wird, könnte der frühere Eppendorfer Suchtbegriff brauchbarer sein als die Fortentwicklung des ICD-10-Suchtbegriffs, der vor allem die körperliche Abhängigkeit betont und die psychische vernachlässigt. Sie ist die eigentliche Sucht (vgl. Psychiatrie Enquête von 1975) und somit das eigentliche Ziel der Suchttherapie, also auch der Sucht Frühintervention. Deshalb ist für eine möglichst zielgerichtete Diagnose eine begriffliche Erfassung der psychischen Abhängigkeit notwendig.
Hauptsymptome sind bei allen Suchtformen gleich
Der frühere „Eppendorfer Suchtbegriff“ könnte für die Weiterentwicklung der Definition Grundlagen liefern. Er ergibt sich aus Äußerungen von Psychiatrie-Professoren, die in den 1960er Jahren in der Psychiatrischen Klinik des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf tätig waren:
1962 nannte der Sexualwissenschaftler und Psychiater Hans Giese, Spezialist für die Psychopathologie der Sexualität, vier typische (Sex-)Sucht-Symptome: die zunehmende Zentrierung der Denk- und Vorstellungsräume in Richtung auf den angestrebten Erlebniszustand, die zunehmende Frequenz der zugehörigen Handlungsvollzüge bei abnehmender Triebbefriedigung, die dranghafte Unruhe und Unerwehrbarkeit in Richtung der Durchführung und das Auftreten körperlich-vegetativer Symptome bei Ausbleiben oder Verhinderung der abnormen Betätigung. Mutatis mutandis bestehen diese Suchtsymptome bei allen Suchtformen, z. B. bei der Nikotinabhängigkeit und bei der Glücksspielsucht. Der Psychiater, Neurologe und Hirnforscher Hans-Joachim Bochnik schrieb 1980, dass „die Analyse der Suchtprobleme lange Zeit darunter gelitten hat, dass sie zu einseitig aus den Erfahrungen mit toxischen Süchten abgeleitet wurden“ und „dass das Wesen süchtiger Entwicklungen deutlicher an nicht toxischen Süchten zu studieren ist.“ Statt von „nicht toxischen Süchten“ wird jetzt von „nicht substanzgebundenen Suchtformen“ gesprochen. Die Erkenntnis, dass es auch nicht substanzgebundene Suchtformen gibt, ist durch die ICD10 verlorengegangen und wird offiziell jetzt erst schrittweise wiederentdeckt (DSM-5). Der forensische Psychiater Wilfried Rasch (1986): „Sucht ist … eine psychopathologische Entwicklung … Sucht ist unabhängig von ihrem Inhalt, insbesondere also auch unabhängig von einer physischen Bindung an eine bestimmte Substanz … Entscheidende Elemente sind die Einengung auf die Sucht und Verlust anderer Erlebnisfelder, soziale Ausgliederung, verändertes Realitätserleben und schließlich Zerstörung der sozialen Person. Der Betreffende gleitet immer mehr in die Unverbindlichkeit ab, ursprünglich vorhandene ethische Maßstäbe gehen verloren. Nur noch die Befriedigung der Sucht zählt.“ Auch die Erkenntnis, dass Sucht eine psychopathologische Entwicklung ist, ging verloren. Nach der ICD10 ist Sucht eine Substanzkonsumstörung. Der Psychiater und Neurologe Klaus Wanke hat 1987 Sucht pragmatisch definiert „als unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebenszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen eines Individuums. Das allgemein menschliche Phänomen des süchtigen Verhaltens ist nur über ein integratives ganzheitliches Konzept zu fassen.“ Diese Sichtweise, Sucht als psychopathologische Entwicklung aufzufassen und nicht zu unterscheiden zwischen substanzgebundenen und nicht substanzgebundenen Suchtformen, wurde bereits in den 1970er Jahren durch die Erkenntnisse der Lernpsychologie bestätigt. Sucht ist intensiv erlerntes Denken und Verhalten. Beim süchtig gewordenen Menschen hat sich durch den gewohnheitsmäßigen Konsum von Suchtmitteln – stofflichen wie Kokain oder nicht stofflichen wie Glücksspielen – ein zunehmend automatisiertes dysfunktionales Denk- und Verhaltensprogramm entwickelt. „Süchtiges Verhalten wird, anders als z. B. das Lernen einer Sprache, überwiegend in phylogenetisch sehr alten Hirnsystemen gelernt.“ (Kiefer 2013)
Psychische Abhängigkeit besteht jahrzehntelang
Der ICD-10-Suchtbegriff ist für eine frühe Sucht-Diagnose nicht geeignet, da er hauptsächlich dem klinischen Bild der Alkohol- und der Opioidabhängigkeit, zudem im eher späten Stadium, entspricht. Betont wird durch ihn die körperliche Abhängigkeit, die lediglich beim Alkohol-Barbiturat Typ und beim Opioid-Typ stärker ausgeprägt ist und nach dem körperlichen Entzug innerhalb kurzer Zeit abklingt. Die psychische Abhängigkeit hingegen besteht jahrzehntelang, sowohl bei den substanzgebundenen als auch bei den nicht substanzgebundenen Suchtformen. Doch durch das „Abhängigkeitssyndrom“ der ICD-10 wurde der Irrtum offiziell festgelegt, dass ausschließlich Substanzen in eine Suchtentwicklung führen würden. Jahrzehnte vorher war spezialisierten Psychiatern bekannt, dass dies unrichtig ist: Bereits vor 100 Jahren wurde die Kaufsucht in den Lehrbüchern der Psychiatrie von Bleuler und Kraepelin beschrieben, war damals jedoch selten. Erst durch unsere derzeitige Konsum- und Eventkultur nahm sie in letzter Zeit erheblich zu (Scherhorn, Raab, Reisch 1988). Bereits 1936 beschrieben die Wiener Psychiater Gabriel und Kratzmann in ihrer Sucht Monografie mehrere „Tätigkeitssüchte“ wie Glücksspielsucht („So wie wir beim Trinker und in gleicher Weise natürlich auch bei anderen Rauschgiftsüchtigen als wesentliche Äußerung der Süchtigkeit das Nichtaufhörenkönnen gefunden haben, ebenso sehen wir beim Spieler, dass er sich nicht oder nur sehr schwer vom Spieltisch losreißen kann.“). Der Münchner Psychiatrie-Professor Feuerlein, damals der in Deutschland anerkannteste Suchtspezialist, schrieb 1975: „Es gibt auch süchtiges Verhalten ohne Drogenkonsum, z. B. Spielsucht.“ Die neueren neurobiologischen Erkenntnisse fasste der Würzburger Psychiatrie-Professor Böning (1998) zusammen: „Dem Gehirn ist es egal, ob die süchtige Erregung von einem Suchtmittel oder einer Tätigkeit erzeugt wird“. Zum Thema Esssucht gibt es zahlreiche Veröffentlichungen. Bei PubMed erscheinen beim Stichwort „food addiction“ über 1.400 Hinweise. Beispiele: 2005 wies die prominente US-Suchtforscherin Nora Volkow in ihrem Artikel „How can drug addiction help us understand obesity?“ auf zahlreiche Parallelen von Drogenabhängigkeit und Adipositas hin. 2009 schrieben Kiefer und Grosshans: „Nahrungsaufnahme ist … auch vermittelt durch neuronale Prozesse, die durch die belohnenden, respektive positiv verstärkenden Eigenschaften von Nahrungsmitteln beeinflusst werden.“ Bereits in dem dünnen Bändchen der ICD-8 (1971) findet sich unter Nr. 306.5 die Fresssucht. Oft liest man jetzt von der Adipositas-Epidemie; die Zahl der einschneidenden bariatrischen Operationen hat erheblich zugenommen. Hierzu ein Zitat aus einer wissenschaftlichen Zeitschrift (Kenneth Blum et al. 2011): “Now after many years of successful bariatric (weight loss) surgeries directed at the obesity epidemic clinicians are reporting that some patients are replacing compulsive overeating with newly acquired compulsive disorders such as alcoholism, gambling, drugs and other addictions like compulsive shopping and exercise. This review article … to explain the phenomenon of addiction transfer.” Addiction transfer, das Umsteigen auf ein anderes Suchtmittel, auf eine Ersatzdroge, Polytoxikomanie, ist bekanntlich ein typisches Sucht-Symptom.
Suchtentstehung ist an Emotionen gekoppelt
Bisher ist nicht zu erwarten, dass es zu einem Paradigmenwechsel etwa durch eine Renaissance des alten „Eppendorfer Suchtbegriffs“ kommt: Die Zentrale der deutschen Psychiatrie, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), hat am 27. Februar 2013 ex cathedra festgestellt, „Pathologisches Kaufen, Exzessives Sexualverhalten und Exzessives Essverhalten“ seien nur „exzessives Verhalten, aber keine Verhaltenssüchte“.
Dies bedeutet praktisch, dass zumindest bis zur ICD-12 in vielleicht 20 Jahren diese Patientengruppen von der suchttherapeutischen Versorgung ausgeschlossen sind. Eigentlich entspricht dies nicht ärztlichem bzw. psycho- und soziotherapeutischem Berufs-Ethos. Wer in der ambulanten oder stationären Praxis Alkoholiker, Drogenabhängige, Spieler, Kaufsüchtige, Medikamentensüchtige in der therapeutischen Begegnung, insbesondere in der gemeinsamen Gruppentherapie, kennen gelernt hat, weiß, dass die DGPPN hier irrt. Die Hauptsymptome der Suchtformen sind diagnostisch im Wesentlichen identisch, die „Wahl“ des individuellen Suchtmittels ist weitgehend von äußeren Umständen abhängig. Sucht entsteht nicht direkt durch Konsum bestimmter Substanzen, sondern durch Emotionen („high“, „Kick“ u. a.), die durch Substanzen wie Alkohol oder Erlebnisse wie durch Glücksspielen im Gehirn bzw. in der Psyche ausgelöst werden. Sucht im Sinne von psychischer Abhängigkeit ist ein intensiv erlerntes Denken und Verhalten, das immer schwerer wieder zu verlernen ist. Durch möglichst krankenkassenfinanzierte Sucht-Frühintervention lassen sich Sucht-Folgeschäden reduzieren oder vermeiden. Erforderlich dafür ist ein klarer und praxistauglicher ICD-11-Suchtbegriff, eine Renaissance des alten Eppendorfer Suchtbegriffs wäre ein erheblicher Fortschritt. Denn die derzeitige Sucht-Epidemie dauert jetzt seit fast 50 Jahren an, so lange wie – soweit bekannt – noch niemals in der Geschichte.
(Veröffentlicht im Hamburger Ärzteblatt 02 | 2014 Forum Medizin)