von Dr. Bert Kellermann

In der „Falle der Konsumfreiheit“ – wenn Shopping zum Sucht-Problem wird

(Referat während der Suchttherapietage, Hamburg, 25. – 28. Mai 2010)
ungekürzt

Kaufsucht war bereits vor 100 Jahren den Lehrern der modernen Psychiatrie bekannt: In dem Psychiatrie-Lehrbuch von Kraepelin (3. Auflage 1916) ist die Kaufsucht (mit Verwendung dieses Begriffes) zweimal erwähnt; auch im Psychiatrie-Lehrbuch von Bleuler (3. Auflage 1920) wird dieser Begriff verwendet. Kaufsucht ist somit keine „neue Sucht“, war bisher jedoch relativ selten. In der letzten Zeit ist die Zahl der kaufsüchtig gewordenen Mitbürger erheblich angestiegen.

Im SPIEGEL wurde vor einigen Wochen über eine kaufsüchtige Frau berichtet, doch typischerweise wurde die Diagnose Kaufsucht nicht genannt. Es ging um eine Berliner Gerichtsvollzieherin, die vor Gericht stand, weil sie in ihrem Beruf 22.000 Euro unterschlagen hatte. Der Psychiater als Gerichtsgutachter betonte lediglich die Lebensprobleme der Angeklagten, von Sucht sprach er nicht. Dann heißt es im relativ langen SPIEGEL-Bericht wörtlich: „Die Ärzte, die Familie konnten ihr nicht helfen, aber vielleicht neue Hosen oder neue Schuhe. Sie kaufte ein, das Geld verschwand. ‚Manchmal waren es viertausend bis fünftausend Euro am Tag’, sagt Tania T., ‚ohne dass ich weiß, wofür’“. Da kauft jemand für viel Geld Sachen ein, die er offenbar gar nicht braucht. Dies hat aber nichts mit unvernünftigem Verhalten zu tun, das ist typisch süchtiges Verhalten, das ist Kaufsucht.

Kaufsucht ist eine gut zu verheimlichende Suchtform: Ein Alkoholsüchtiger („Alkoholiker“) hat vielleicht eine Fahne oder morgens Händezittern usw., einem Kaufsüchtigen jedoch sieht man seine Sucht nicht an, es sei denn, man ist ein erfahrener Schuldnerberater. Denn die Verschuldung ist ein typisches Symptom einer Kaufsucht. Und sehr wahrscheinlich hatte die Berliner Gerichtsvollzieherin zunächst hohe Schulden, bevor sie die Gelder an ihrem Arbeitsplatz unterschlug, ein Beschaffungsdelikt, typisch für eine teure Suchtform.

Sie haben vielleicht gehört, dass im vergangenen Jahr ein Film in den Kinos lief mit dem Titel „Shopaholic“. Shopaholics Anonymous ist eine Selbsthilfegruppe der Kaufsüchtigen, hauptsächlich in den USA; sie entstand wie viele andere Sucht-Selbsthilfegruppen nach dem bewährtem Muster der AA, der Alcoholics Anonymous. Shoppen gehen ist ja inzwischen auch ein oft gebrauchtes deutsches Wort. Ein Shopaholic ist also ein Kaufsüchtiger.

Es geht in dem Film um eine junge Frau namens Rebecca, eine Finanzjournalistin in London. Sie muss sich ständig schicke Sachen kaufen, obwohl sie schon völlig überschuldet ist. Immer wieder geht sie in angesagte Geschäfte und kann nicht widerstehen, wenn sie wunderschöne Sachen sieht. Besonders ziehen sie im Preis reduzierte Sachen an, die beliebten Schnäppchen, bei deren Kauf man sich einbildet, man würde ja sparen. Immer wieder nimmt Rebecca sich fest vor, nicht mehr so viel shoppen zu gehen, sie macht Sparpläne, und immer wieder wird sie rückfällig. Ihre Schulden steigen immer mehr an, die Mahnschreiben der Banken vergisst sie rasch oder wirft sie schließlich sogar ungelesen weg. Das Buch zum Film hat ebenfalls den Titel „Shopaholic“. Auf dem Umschlag steht eine junge Frau, die Hände voller Einkauftüten, oben steht: „Kein Mann macht dich so glücklich wie ein Shop“. Der Untertitel heißt: „Die Schnäppchenjägerin“. Ich vermute, dass dieser unterhaltsame Roman ein Stück weit eine verdeckte Autobiografie ist, dass also die Autorin genau weiß, was eine Kaufsucht ist, nämlich eine seelische Krankheit.

Nicht so amüsant zu lesen ist das Buch „Kaufsucht, mein Leben durch die Hölle“ von Frau Zimmer-Fiene, ein Sammlung von Berichten von Kaufsüchtigen. Das sind ja die kompetentesten Fachleute für diese psychische bzw. psychosoziale Störung. Hauptsächlich berichtet Frau Zimmer-Fiene ihre eigene Geschichte. Nur zwei Sätze daraus: „Ich selbst wurde 1994 wegen Betruges in 42 Fällen in Höhe von 65.000 DM zu einer Strafe von 3 Jahren mit Einweisung in ein forensisch-psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Es wurden durch die Rückfälle insgesamt 8 Jahre.“ Zur Erklärung: wenn jemand etwas kauft, was er nicht bezahlen kann, ist das Betrug, also selbstverständlich eine Straftat. Eine typische Suchtkarriere: Kaufsucht führt früher oder später zur Verschuldung und kann dann in den Knast oder in eine Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung nach § 63 StGB führen (wenn schon, dann wäre eine Therapie nach § 64 StGB sinnvoller – was der BGH jedoch nicht so sieht). Auch suchttypisch: Obwohl Frau Zimmer-Fiene durch ihre Sucht in diese für sie sehr belastende Situation gekommen ist und obwohl sie wusste, dass Rückfälle während Beurlaubungen ihre Zwangsunterbringung verlängern wird, wurde sie mehrmals rückfällig.

Vermutlich kennt jeder das gute Gefühl, wenn man sich etwas Schönes kauft. Man freut sich, man hat ein Erfolgserlebnis. Das schöne Gefühl beginnt eigentlich schon vorher, die Vorfreude auf dem Weg in den Laden oder vor dem Schaufenster. Noch größer ist das Erfolgserlebnis, wenn man das Gefühl hat, die Sache preisgünstig gekauft, ein Schnäppchen erjagt zu haben. Doch klingen diese schönen Gefühle nach dem Kauf mehr oder minder rasch wieder ab. Man weiß dann jedoch, wie man sich bei Bedarf wieder ein solch schönes Gefühl verschaffen kann. Kaufen kann euphorisieren wie eine Droge oder wirken wie ein gutes Antidepressivum oder Anxiolyticum. Deshalb gehen manche Leute shoppen, wenn sie bedrückt und mutlos sind. Das Shoppen hilft ihnen, die Probleme für eine Weile auszublenden. Selbstverständlich gehen die Probleme davon nicht weg. Man vermeidet es durch das Shoppen vielleicht sogar, sich den Problemen zu stellen, man weicht der Problembewältigung aus. Das kann dazu führen, dass man häufiger shoppen geht, um sich aufzuheitern, um den Problemdruck zu vergessen. Ein suchttypischer Teufelskreis. Man kauft vielleicht nicht nur immer mehr Sachen, sondern auch immer teurere Sachen. Das Shoppen kann auf diese Weise zum Droge werden, zum antidepressiven Medikament, zum Betäubungsmittel, bzw. zum Suchtmittel. Wie Alkohol, Nikotin, Glücksspielen und Internet ist Kaufen eine legale Droge.

Unsere Politiker wollen ja unbedingt, dass wir gerade jetzt in der Weltwirtschaftskrise und wegen der extremen Staatsverschuldung kaufen, kaufen und nochmals kaufen. Der Konsum ist heute ein sehr wichtiger Wert, auch ohne wirklichen Bedarf, er ist mehr oder minder zum Selbstzweck geworden. Nur wenn wir noch viel mehr konsumieren, haben wir angeblich eine Chance, einigermaßen glimpflich aus der derzeitigen Krise davonzukommen. Nicht mehr ganz neue, an sich noch brauchbare Sachen müssen verschrottet und neue Sachen gekauft werden. Die „Konsumlaune“ sei ungetrübt, stellte die Gesellschaft für Konsumforschung fest. Das Wort „Konsumlaune“ klingt so positiv, das ist natürlich auch ein Stück weit eine Meinungs-Manipulation durch die Werbung und die politisch Verantwortlichen. Kaum jemand spricht noch von den US-Bürgern, die sich mit scheinbar günstigen Krediten ein Haus gekauft hatten, dadurch in die Schuldenfalle geraten sind und jetzt in Zelten leben, während die Häuser leer stehen und vergammeln.

Während von der Glückspielsucht meist Männer betroffen sind, geraten überwiegend Frauen, meist eher zarte Frauen, in die Kaufsucht. Sie kaufen hauptsächlich Kleidung, Schuhe, Schmuck, Bücher, Musik-CDs und Kosmetika, die sie eigentlich gar nicht benötigen und vor allem sich eigentlich gar nicht mehr finanziell leisten können. Sie kaufen auch gerne Geschenke für andere. Es geht ihnen um das Kaufen, genauer um das schöne Gefühl beim Erwerb der attraktiven Sachen, kaum um das Besitzen. Nebenbei: wenn es beim Kaufen hauptsächlich um das Besitzen geht, handelt es sich um eine Sammelsucht. Die gekauften Sachen werden von den Kaufsüchtigen oft zu Hause einfach weggepackt, später werden die Einkaufstüten nur irgendwo abgestellt, die Wohnung wird immer voller, es stapeln sich unnötige Sachen. Dann kommt es oft zu negativen Konsequenzen, bspw. Vorwürfen des Partners, wenn einer vorhanden ist; vor allem kommt es zu finanziellen Problemen und damit zu zusätzlichen Belastungen. Die seelische Verfassung, die Stimmung insbesondere wird zunehmend schlechter. Doch es gibt ein wirkungsvolles Medikament dagegen: wieder Shoppen gehen, das hilft, um die Stimmung aufzuhellen und die Selbstvorwürfe auszublenden. Ein Teufelskreis, typisch für eine Suchtentwicklung. Mit anderen Worten: Suchtmittelkonsum kann bekanntlich zunehmend zu negativen Konsequenzen führen und damit zu seelischen Belastungen, die den Suchtmittelkonsum verstärken. Dies gilt wie für alle Suchtformen auch für die Kaufsucht.

Es gibt aber auch Männer, die kaufsüchtig werden. Sie kaufen sich überwiegend technische Sachen wie Fotoapparate oder Autos. Einer unserer Klienten musste immer das neueste Handy haben, und verschuldete sich dadurch massiv. Ich musste einmal einen Mann begutachten, der wegen Betrugs im Gefängnis gelandet war. Ich nenne ihn mal Kai X. 35 Jahre alt, Fernmeldehandwerker, seine Arbeitsstelle hat er wegen Gehaltspfändung verloren. Wiederholt war er bereits zu Gefängnisstrafen wegen Betrugs verurteilt worden, weil er – trotz hochgradiger Verschuldung – hochwertige Waren gekauft hatte (bspw. gleich 77 Flaschen teuren Wein und zahlreiche Luxus-Uhren), ohne sie bezahlen zu können und ohne eine Verwendung für die Menge zu haben. Insgesamt habe er bereits einen Schaden von 200.000 Euro angerichtet. Nur wenige Stunden nach erneuter gerichtlicher Verurteilung zu einer Haftstrafe hatte er schon wieder ein Luxus-Auto gekauft (übrigens schon zum siebten Mal), obwohl er es nie würde bezahlen können. Er habe dies trotz der gerade erlebten harten negativen Konsequenzen für ihn wie Freiheitsentzug getan, wie er sagte: „Um mich kurzzeitig besser zu fühlen“. „Ich habe mich mit einem neuen Kauf betäubt.“ Bei einem Kauf und direkt danach habe er ein „Hochgefühl“ gehabt. Erst dann sei bei ihm die Angst vor den Konsequenzen hochgekommen, auch Schuldgefühle. Er habe sich selbst gefragt, warum er immer wieder Sachen kaufe, die er eigentlich gar nicht brauche. Vor seiner Freundin habe er die „gekauften“ Sachen versteckt. Sein Vater sagte, seit einigen Jahren gebe es sozusagen zwei Kai’s, der 2. (d. h. der jetzige) Kai sei für die Eltern fremdartig und krankhaft. „Diese Sachen – das ist nicht seine Art“ sagte der Vater. Er hat sich also in seinem Wesen negativ verändert. Bis zu seiner erneuten Verhaftung kaufte er weitere Luxus-Artikel, bspw. bei einem Juwelier fünf Luxus-Uhren auf einmal. Das Kaufen von Luxusartikeln würde – wie er sagte – einen gehobenen Status nach außen symbolisieren und gebe ihm Selbstvertrauen. Er wurde erneut zu einer Haftstrafe verurteilt, trotz erwiesener Sinnlosigkeit dieser Sanktionen: der wiederholte Freiheitsentzug hatte bei ihm eher eine Verschlimmerung der psychischen Störung bewirkt. Durch seine Sucht, d. h. durch seine psychische Störung und die Reaktionen der Gesellschaft darauf, nämlich langzeitigen Freiheitsentzug wurde die Biografie von Herrn X massiv und dauerhaft beschädigt. Wie ich kürzlich erfuhr: Nach mehreren Jahren Haft war er endlich wieder in Freiheit, er besuchte eine Kaufsucht-Selbsthilfegruppe, alles schien endlich gut zu werden, aber trotz der massiven negativen Konsequenzen seiner Kaufsucht, die er bereits erlitten hatte, wurde er nach einigen Monaten wieder rückfällig und kam wieder in den Knast.

Dieser Mann war vor seiner Sucht ein – wie man sagt – ganz normaler Mensch. Jeder Mensch kann süchtig werden, wenn er – das ist das Entscheidende – ein Suchtmittel (d. h. eine Substanz oder eine Tätigkeit mit Suchtpotenzial, bspw. Nikotin oder Glücksspielen) konsumiert und sich diesen Konsum zunehmend angewöhnt. Früher hat man süchtig gewordene Menschen wegen ihre „Lasters“ verachtet, sie seien haltlos, willensschwach usw. Das stimmt jedoch nicht, kein Mensch wird als Süchtiger geboren; wer kein Suchtmittel konsumiert oder nur mit Vorsicht (Beachtung von Konsumregeln), wird auch nicht süchtig. Zwar kann man sagen, das der eine mehr gefährdet ist als der andere; insbesondere Menschen mit einer Selbstwertproblematik sind kaufsuchtgefährdet bzw. überhaupt suchtgefährdet. Nochmals: jeder Mensch kann süchtig werden, wenn er ein Suchtmittel konsumiert. Je mehr Suchtmittel auf dem „Markt“ sind, desto mehr Menschen konsumieren Suchtmittel und desto mehr werden süchtig.

Es ist allerdings umstritten, ob exzessives, zwangsartiges Kaufen als Sucht bezeichnet werden soll. Vornehme Wissenschaftler sprechen lieber von „Pathologischem Kaufen“. Im Psychiatrie-Kapitel der ICD-10, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, werden Sie Kaufsucht nicht finden, obwohl sie schon vor 100 Jahren in den Psychiatrie-Lehrbüchern erwähnt wurde. Sie können die Kaufsucht wie andere nichtsubstanzgebundene Suchtformen, bspw. die Internetrollenspielsucht bzw. Computersucht klassifizieren unter F63.9 „nicht näher bezeichnete abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“. Sie wissen, dass in der ICD-10 das Abhängigkeitssyndrom sich ausschließlich auf Substanzen bezieht, was nicht der klinischen Realität entspricht und unwissenschaftlich ist. Es bestehen Aussichten, dass in der ICD-11 wieder der alte, klare Begriff „Sucht“ verwendet wird und dass wenigstens die Glücksspielsucht in diese Kategorie aufgenommen wird. Große Fortschritte für die Suchtarbeit wird die ICD-11 vermutlich nicht bringen. Wir waren in der Suchtarbeit schon einmal weiter: 1975 schrieb W. Feuerlein, damals der anerkannteste Suchtexperte im deutschsprachigen Raum: „Es gibt auch süchtiges Verhalten ohne Drogenkonsum, z. B. Spielsucht oder auch das süchtige Verhalten bei sexuellen Perversionen.“ M. E. war damals der Suchtbegriff klarer und praxisrelevanter. In der Suchtarbeit geht es offensichtlich nicht nur voran.

Kaufsucht ist eine typische Suchtform. Denn Sucht ist Psychische Abhängigkeit (die körperliche Abhängigkeit ist eine eigenständige Störung, sie wird traditionell von meiner Berufsgruppe, den Psychiatern, überbetont.). Leider kann ich hier nur kurz auf den Suchtbegriff eingehen. Sie wissen, 1968 wurde die Alkoholabhängigkeit als Krankheit anerkannt. Da die körperlichen Folgeerscheinungen einer Alkoholabhängigkeit, nämlich die Intoxikation und die körperlichen Entzugserscheinungen nur kurz andauern, wird deutlich, dass Alkoholabhängigkeit – und damit m. E. jede Suchtform – eine psychische Krankheit ist. Als Modellsucht eignet sich besser die anscheinend häufigste Suchtform, die Nikotinsucht; sie ist in den letzten Jahren allerdings durch die Gegenmaßnahmen deutlich seltener geworden (gezielte Maßnahmen gegen die heutige Suchtproblematik können also wirsksam sein!) Auch willensstarke und erfolgreiche Leute können nikotinsüchtig werden, denken Sie nur an den berühmtesten Hamburger, der mit 90 Jahren sogar bei Fernseh-Interviews eine Zigarette nach der anderen ansteckt. Die körperlichen Folgeschäden können spät auftreten, die Sucht besteht bereits lange vor den körperlichen Schäden. Üblicherweise werden die Unterschiede zwischen den Suchtformen betont, doch die Gemeinsamkeiten sind viel wichtiger, entscheidend sind die krankhaften Veränderungen im Gehirn bzw. in der Psyche, und die sind identisch.

Es ist wichtig, dass eine Sucht bereits diagnostiziert wird, bevor Folgeschäden eingetreten sind. Das Suchtpotenzial eines Suchtmittels ist also für die Diagnose und die möglichst frühe therapeutische Intervention (Sucht-Sekundärprävention als Sucht-Frühintervention zur Schadensminimierung) wichtiger als das Schadenspotenzial. Manche Suchtmittel haben ein besonders hohes Suchtpotential, d. h. sie machen einen hohen Anteil ihrer Konsumenten süchtig. Suchtmittel erzeugen mehr oder minder starke positive Gefühle und/oder sie können negative Gefühle wirksam beseitigen (positive bzw. vor allem negative Verstärkung). Man kann durch Suchtmittelkonsum, bspw. durch Kaufen seine Sorgen und Ängste vergessen. Das Gehirn bzw. die Psyche merkt sich bekanntlich solche positiven Erfahrungen und veranlasst, das solche Erfahrungen wiederholt werden, insbesondere bei Bedarf an positiven Gefühlen. Seit Jahren wird ja viel vom Belohnungssystem im Gehirn und vom Suchtgedächtnis gesprochen. So kann sich der Drogenkonsum selbstständig machen und mehr oder minder automatisch ablaufen. Der prominente Psychiatrieprofessor Böning weist seit Anfang der 90er Jahre hin auf die Schlüsselrolle des Suchtgedächtnisses. Er spricht von „neurobiologisch verankerten Fesseln süchtiger Verhaltensmuster“ und betont die zentrale Bedeutung des Belohnungssystems und von Lernvorgängen. Süchtiges Verhalten (Addictive Behaviors) ist erlerntes Verhalten, es ist durch die Wiederholung tief eingeschliffen und läuft wie ein Computerprogramm ab. Von Prof. Böning stammt auch der Satz: „Dem Gehirn ist es egal, ob die süchtige Erregung von einem Suchtmittel oder einer Tätigkeit erzeugt wird.“ (Böning 1989). Denn es geht einem süchtig gewordenen Menschen eigentlich nicht um den Konsum seines Suchtmittels (Droge), sondern um die durch dessen Konsum erzielten psychotrope Wirkung (stimulierend, euphorisierend, antidepressiv, anxiolytisch u.ä.)

Die amerikanische psychiatrische Gesellschaft, die für das DSM-V und damit für die ICD-11 entscheidend ist, will die Internetsucht nicht anerkennen, weil es noch nicht genügend wissenschaftliche Forschung dazu gebe. Üblicherweise werden ja die Unterschiede zwischen den Suchtformen betont, für die Diagnose und auch für die Therapie sind jedoch die Gemeinsamkeiten wesentlicher. Um ein konkretes Beispiel aus der Technik als Vergleich zu nehmen: selbstverständlich gibt es paar Unterschiede zwischen einem Smart oder einem BMW, aber beide sind Autos. Für die Bezeichnung als Auto ist es egal, ob es mit Benzin, Diesel oder Strom etc. angetrieben wird. Deshalb ist es so wichtig, dass die Suchtberatungsstellen sich für alle Suchtformen zuständig erklären, zumindest für die legalen, in enger Kooperation mit einigen Kollegen, die sich spezialisiert haben. Spezialisierung ist gut und notwendig, aber erst wenn das Basis-Hilfsangebot vorhanden ist. Zumindest nach meinen Erfahrungen in der Suchtarbeit seit über 30 Jahren sind die wesentlichen Symptome bei allen Suchtformen mehr oder minder identisch. Ein Beispiel: Als in den 80er Jahren die ersten Spielhallen–Glücksspielsüchtigen zu uns kamen, machten sie und die Alkoholiker in der gemeinsamen Therapiegruppe die Erfahrung: Sucht ist Sucht, die individuellen Suchtmittel sind weitgehend austauschbar. Den Alkoholikern wurde in der gemeinsamen Therapiegruppe klar: nicht der Alkohol ist entscheidend, sondern das, was in der Psyche bzw. im Gehirn des Alkoholsüchtigen geschieht („ich muss mein Verhalten ändern, der Alkohol ist harmlos, wenn ich ihn nicht trinke“).

Nun wieder speziell zur Kaufsucht. Die umfangreichste deutsche Kaufsuchtstudie, die von Scherhorn, Raab und Mitarbeitern von der Uni in Stuttgart, ergab bei der Befragung 1991, dass in den alten Bundesländern bei den Erwachsenen 5% und in den damals neuen Bundesländern 1% stark kaufsuchtgefährdet sind. 2001 erfolgte eine Wiederholungsstudie, die ergab, dass in den neuen Bundesländern sich die Anzahl der stark Kaufsuchtgefährdeten in den zehn Jahren auf 6,5% versechsfacht hat, in den alten Bundesländern ist der Anteil von 5% auf 8% angestiegen. In Deutschland sind somit 7-8% stark kaufsuchtgefährdet. Nochmals: 7-8% unserer Mitbürger sind stark kaufsuchtgefährdet. Wer in Gefahr ist, wäre gut beraten, wenn er rechtzeitig etwas dagegen tut. Wie man immer wieder feststellen muss, ist vorausschauendes Denken derzeit nicht unbedingt angesagt. Hätte man rechtzeitig etwas gegen das Börsencasino unternommen, hätten wir jetzt weniger Sorgen, die derzeitige Weltkrise ist von mehreren rechtzeitig vorhergesagt worden.

Durch die Kaufsucht und die Glücksspielsucht wurde wieder deutlich, was früher schon bekannt war und in Vergessenheit geriet. Deshalb möchte ich nochmals betonen: Entscheidend ist, was im Gehirn bzw. in der Psyche geschieht, d. h. die Psychische und nicht die körperliche Abhängigkeit. Die Psychische Abhängigkeit ist bei allen Suchtformen identisch. Glücksspieler haben ähnliche Gefühle wie Kokain-Schnupfer. Ein schöner Shop kann so heiter machen wie ein Glas Sekt. Kaufsucht, Glücksspielsucht u.ä. Suchtformen werden als nicht substanzgebundene Suchtformen bezeichnet oder besser als Formen der „Verhaltenssucht“. In dem wichtigsten Fachbuch über Verhaltenssucht, dem von Grüsser und Thalemann (2006 erschienen) werden – gestützt auf internationale Literatur – außer der Glücksspielsucht und der Kaufsucht – noch andere Formen der Verhaltenssucht genannt, bspw. Sexsucht.

Es ist wie eine fixe Idee, man muss shoppen, insbesondere wenn es einem psychisch schlecht geht. Man kauft immer mehr, in der Hoffnung auf das schöne Gefühl der Erleichterung und Freude („Kick“), doch dieses Gefühl kommt nur kurz und schwach. Diese psychische Situation ist im Shopaholic-Roman recht gut beschrieben: Rebecca, die junge Londoner Finanz-Journalistin, fühlte sich morgens beim Aufwachen depressiv, verzweifelt, voller Selbstvorwürfe wegen der Erlebnisse am Abend vorher. Ein kurzes Zitat: „Stattdessen kann ich vor Schulden kaum aus den Augen schauen. (…) Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Überhaupt keine. Todunglücklich trinke ich einen Schluck Kaffee…“ Sie geht spazieren und wie ferngesteuert geht sie in ihren Lieblingsladen, mit ihren Worten: „Mein allerliebster Laden auf der ganzen Welt.“ Es ist typisch, durch eine Sucht kommt es zu einer radikalen Umorientierung in der Wertehierarchie, der oberste Daseinswert wird zunehmend der Drogen- bzw. Suchtmittel-Konsum. Bspw. berichtete ein glücksspielsüchtiger Patient in der Suchttherapie erschüttert, er habe das neue Kinderfahrrad seiner kleinen Tochter versetzt, um in die Spielhalle gehen zu können.

Durch das Gesagte wird hoffentlich deutlich: Für die Sucht-Diagnose und für die Sucht-Therapie sind zwei typische Suchtsymptome relevant, die für alle Suchtformen gelten, der Verlust der Dosissteuerung und das nicht mehr rational gesteuerte, automatisierte Verhalten: ein kaufsüchtig gewordener Mensch kann nicht mehr nur das kaufen, was er wirklich haben will und was er auch bezahlen kann. Das früheste und sicherste Symptom ist der Verlust der Dosissteuerung, mit anderen Worten: das Kontrollverlust-Phänomen. Zu deutsch: wenn man erst mal angefangen hat, sein Suchtmittel, seine Droge zu konsumieren, kann man damit nicht so rasch wieder aufhören. Sie kennen das: Alkoholiker bspw. berichten, sie hätten nach monatelanger Abstinenz im Kollegenkreis nur ein Glas Bier mittrinken wollen und hätten danach in den nächsten Stunden extrem weitergetrunken, was sie eigentlich gar nicht wollten. Rebecca wollte in ihrem Lieblingsladen nur eine Kleinigkeit kaufen, mit ihren Worten: „Nur eine winzige Kleinigkeit, um mich ein bisschen aufzuheitern.“ Sie merkt dann jedoch, dass sie gar nicht heiterer wird, sie ist enttäuscht, weil ihre Droge gar nicht mehr richtig wirkt. Mit ihren Worten: „Aber leider bin ich nicht ganz so glücklich, wie ich sein sollte, als ich die T-Shirt-Abteilung ansteuere. Ich sehe mir das eine oder andere Teil an und versuche, dieses aufgeregte, prickende Gefühl zu evozieren, das ich normalerweise empfinde, wenn ich mir eine Kleinigkeit gönne – aber heute fühle ich mich irgendwie leer.“ Rebecca versucht es dann in typischer Weise mit der Dosissteigerung, nimmt sich immer mehr schöne Sachen und geht mit einem großen Packen an die Kasse. Nun die große Ernüchterung: ihre Kreditkarte ist gesperrt, auch die zweite und dritte. Ohne ihre schönen Sachen und tief beschämt flieht sie aus ihrem Lieblingsladen. – Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich will hier nicht für diesen Unterhaltungsroman werben, aber das ist O-Ton, dadurch wird es deutlich, was ich nur abstrakt beschreiben kann.

So etwas wie Rebecca berichten auch andere Suchtkranke in der Therapie. Suchtkranke sind Meister im Selbstbetrug. Sie betrügen auch andere und werden immer erfinderischer in Ausreden, am meisten aber betrügen sie sich selbst. Der Selbstbetrug eines süchtig gewordenen Menschen ist das größte Therapiehindernis. Erst wenn jemand vor sich selbst akzeptiert hat, in die Sucht-Psychofalle geraten zu sein, wenn er – wie die Anonymen Alkoholiker sagen – kapituliert hat, erst dann ist die therapeutische Wende, d. h. eine Verhaltens-Änderung möglich. Je früher diese Wende erfolgt, desto besser. Es muss ja nicht zu irreparablen Folgeschäden wie totale Verschuldung, Arbeitsplatzverlust, Zerbrechen von Partnerschaft und Familie, Beschaffungsdelinquenz kommen. Nicht wenige Suchtkranke geraten sogar in eine suizidale Krise.

In der Suchtarbeit setzt sich ganz langsam die an sich alte Erkenntnis durch: Man sollte einem Suchtkranken möglichst früh dabei helfen, aus der fortschreitenden Negativkarriere auszusteigen (Stichwort: Sucht-Frühintervention durch Sekundärprävention). Bei vielen Suchtmitteln wie Alkohol oder Nikotin ist das scheinbar ganz einfach, in Wirklichkeit aber extrem schwierig: Radikal aufhören, keinen Tropfen Alkohol bzw. keine einzige Zigarette mehr. Und nicht wieder anfangen – das ist noch schwieriger. Denn das Kontrollverlustphänomen besteht jahrzehntelang, es hat sich ein Suchtgedächtnis gebildet. So kann es immer wieder zu Rückfällen kommen. Dann ist es wichtig, möglichst schnell wieder aufzuhören.

Insbesondere die Kollegin Astrid Müller von der Uni Erlangen hat nach ihren Erfahrungen in den USA eine professionelle strukturierte kognitive Therapie für Kaufsüchtige aufgebaut, ein Gruppenkontakt pro Woche, 12 Wochen lang. Diese kognitiv-verhaltenstherapeutische Programm ist offensichtlich wirksam, niedrigschwellig und vor allem billig. Eine intelligente Sparmaßnahme wäre es, wenn die Krankenkassen dies finanzieren würden. Dieses Therapieprogramm ist m. E. für die Frühintervention bei allen Suchtformen geeignet.

Sehr hilfreich für Menschen, die süchtig geworden sind und ihre Verhaltenskontrolle wiedergewinnen wollen, sind erfahrungsgemäß die Selbsthilfegruppen, für Alkoholiker bspw. die Anonymen Alkoholiker, die Freundeskreise, die Guttempler usw. Nach dem Muster der Anonymen Alkoholiker haben sich in manchen Städten auch Gruppen für Kaufsüchtige gebildet. Ich muss sagen: Ich bin seit Jahrzehnten in der Suchtarbeit, obwohl ich Arzt und Suchttherapeut bin, muss ich zugeben: das beste Medikament gegen Sucht ist die Sucht-Selbsthilfegruppe. Als Gast habe ich oft an deren Veranstaltungen teilgenommen. Und ich bin immer wieder beeindruckt, wenn jemand sagt: „Ich heiße (…) und ich bin Alkoholiker“ bzw. süchtiger Glückspieler usw. Wie schon gesagt, ist der Selbstbetrug das größte Therapiehindernis bei der Suchtkrankheit. Der typische Selbstbetrug eines süchtig gewordenen Menschen lautet: „Ich bin doch gar nicht süchtig.“ Erst wenn ein Süchtiger kapituliert und seine Sucht akzeptiert vor sich selbst, erst dann ist eine Verhaltensänderung möglich. Leider sind die Sucht-Selbsthilfegruppen derzeit weniger gefragt als in den 1970er und 1980er Jahren (vielleicht eine Folge des Psychotheapeutengesetzes von 1998 – in den 1960er Jahren gingen die Leute auch lieber in eine langzeitige Psychotherapie statt selbst aktiv zu werden). Zukunft haben deshalb m. E. die von externen Experten begleiteten Sucht-Selbsthilfegruppen, insbesondere wenn ein intensives kognitiv-verhaltenstherapeutisches ambulantes (oder ca. 14-tägiges stationäres) Kurzzeitprogramm am Anfang steht. Auf diese Weise können oft teure Psychotherapien und Reha-Maßnahmen eingespart werden. M. E. ist es auf längere Sicht sowohl für das Gemeinwohl als auch für die wirksame Verbesserung der individuellen Lebensqualität (bzw. Schadensreduktion) außerordentlich wichtig, dass durch eine niedrigschwellige und frühzeitige Psychosozialarbeit mit Aktivierung der Selbsthilfekompetenzen intelligent gespart wird, und nicht nach dem Rasenmäherprinzip. Die hochschwellige und langwierige professionelle Einzeltherapie, die sich seit der Jahrhundertwende entwickelt hat, ist m. E. nur bei einem Teil der Klienten/Patienten rationell und führt zu viel Bürokratie (zudem zu mehr Macht für die Schreibtischtäter).

Es liegt jetzt die schwierige Frage in der Luft: ab wann ist jemand kaufsuchtgefährdet oder sogar schon kaufsüchtig. Im Internet gibt es Fragebögen, die jemandem bei der Selbsterkenntnis und Selbst-Diagnose helfen können. Klar ist jedenfalls: wenn jemand durch das Shoppen in die Verschuldung geraten ist, sollte er aufwachen und sich sagen: ich bin kaufsüchtig geworden und muss etwas dagegen tun. Dies gilt übrigens ebenfalls für alle Suchtformen. Es hat sich bewährt, besser zu früh als zu spät sich selbst als ein süchtig gewordener Mensch zu akzeptieren und sich zu bemühen, seine Autonomie zurückzugewinnen. Die Kontrolle über dieses Verhalten, die Verhaltensautonomie zurückzugewinnen, ist schwierig, aber möglich. Eine strikte und dauerhafte Abstinenz wie bei der Alkoholabhängigkeit, das wäre der einfachste und sicherste Weg, ist ja bei der Kaufsucht kaum realistisch; zumindest vorerst ist eine partielle Abstinenz (Nullkonsum für die problematischen Kaufobjekte) hilfreich. Kognitive Kaufsuchttherapie heißt, es durch geduldige Übung wieder zu lernen, auf seine Gefühle und Gedanken zu achten, und zwar vor, während und nach dem Kauf. Konkret bedeutet dies vor allem, auf den inneren Dialog i. S. von Albert Ellis zu achten. Von Experten begleitete Selbsthilfegruppen und Notizen im Tagebuch morgens und abends zur Selbstexploration können dabei hilfreich sein.

Zusammenfassung
Kaufen („Shoppen“) kann wie eine (legale) Droge wirken, in eine Psychofalle locken und so zu einer Sucht (Verhaltenssucht) führen. Schon vor 100 Jahren wurde die Kaufsucht in psychiatrischen Lehrbüchern erwähnt, bisher war sie jedoch relativ selten. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kaufsuchtgefährdung in Deutschland in den vergangenen 20 – 30 Jahren erheblich angestiegen ist. Neben der Glückspielsucht ist die Kaufsucht derzeit eine der häufigsten Formen der Verhaltenssucht. Konkret: Manche Menschen haben es sich angewöhnt, sich durch starke und schöne Kaufreize, also Werbung zu unüberlegten Käufen („Konsum“) manipulieren zu lassen und wurden auf diese Weise kaufsüchtig. Durch die Kaufsucht wird für alle Suchtformen deutlich: Süchtiges Verhalten ist im Wesentlichen ein automatisiertes Verhalten, bei dem das vorausschauende Denken, d. h. das Denken an die bereits erlebten negativen Folgen abgeschaltet ist, es ist sozusagen das Frontalhirn abgeschaltet, auf die Alarmsignale wird nicht geachtet. Dadurch kontrolliert man sein Verhalten kaum mehr, es läuft ab wie ein eingeschliffenes Verhaltensprogramm, man verhält sich wie fremdbestimmt, „ferngesteuert“. Ein kurzzeitiges (stationäres, teilstationäres oder ambulantes) professionell kognitiv-verhaltenstherapeutisches Programm mit anschließender langzeitiger Teilnahme an (evtl. von Experten begleiteten) Selbsthilfegruppen kann hilfreich sein, insbesondere im Frühstadium der progressiven Suchtentwicklung.

Nochmals: Für die Schadensminderung bzw. Prognose ist – für die Kaufsucht wie für alle Suchtformen – die Frühintervention enorm wichtig.

Literatur: bertkellermann (at)gmx.de, Dr. Bert Kellermann, Psychiater i. R., ehrenamtlicher Mitarbeiter Verhaltenssuchtberatung im „Die Brücke – Beratungs- und Therapiezentrum e. V.“, 22767 Hamburg