Sinan – glücksspielsüchtig – zweite Migrantengeneration

Bert Kellermann

Veröffentlicht in: Gisela Alberti/Bert Kellermann (Hrsg.), Psychosoziale Aspekte der Glücksspielsucht S. 94 – 110, Neuland-Verlag Geesthacht 1999

A

Die Hochzeitseinladung war in türkisch. Das einzige Wort, das ich kannte, war „Camii“ (Moschee). Ich zog zur Feier vorsichtshalber den dunklen Anzug an (zum dritten Mal in den letzten 30 Jahren). Daß die Camii in dem peripheren Stadtteil von Berlin nicht so traumhaft schön sein würde wie die Moscheen in Istanbul, war mir klar. Doch daß sie so arm sein würde, hatte ich nicht erwartet: sie war in der Parterrewohnung in einem alten, kleinen Häuschen. Ich hatte auch nicht erwartet, daß ich unter den vielen Menschen in dieser Vorstadt-Camii der einzige sein würde, dessen Vorfahren (zufällig) den deutschen Pass hatten. Andererseits hatte ich auch nicht erwartet, daß ich dort so warmherzig empfangen werden würde.

Sinan als Bräutigam im feierlichen Anzug, so kannte ich ihn noch nicht. Den Vater hatte ich vor Jahren schon ‘mal kennengelernt; daß er so würdig aussieht, wußte ich nicht mehr. Der Imam nahm sich für mich Zeit, als ob er nicht Wichtigeres zu tun hätte. Es waren nur Männer da, und viele kleine, lustige Koranschüler, die munter herumpurzelten. Die Frauen seien in einem anderen Raum hinter der Küche, wie ich erfuhr. Ich bekam eine Schale mit duftendem türkischen Tee, wie ich ihn ‘mal im Urlaub mit Blick auf den Bosporus getrunken hatte.

Dann begann die Feier. Da ich nicht stören wollte, blieb ich im Büro des Imams. Die Tür war offen, ich konnte den Gottesdienst hören und zum Teil sehen. Es wurde gesungen, im Wechsel zwischen dem Imam und der Gemeinde; zwischendurch eine melodische Knabenstimme. Nach einer Stunde etwa war eine Pause. Die lustigen Koranschülerchen waren wieder da, erstaunlich brav. Von der anderen Seite durch die Küche kam ein kleines wildes Mädchen; keiner schickte sie zurück. Einige der Jungen sprachen mit mir, manche konnten nicht so gut deutsch, untereinander sprachen sie nur türkisch. Welche sozialen Chancen werden sie so später haben in der großen Stadt, in der wir gemeinsam leben? Wer macht sich Gedanken, um die vorhersehbaren sozialen Integrationsprobleme möglichst zu vermeiden?

Danach war ich wieder allein. Die Wechsel-Gesänge dauerten lange. Ich fühlte mich wie ein Extraterrestrischer. Mir wurde bewußt: es hat sich wohl noch niemand meiner Art hier blicken lassen. Trotzdem war ich so warmherzig empfangen worden, als ob ich dazu gehören würde. – Nach fast drei Stunden, in einer Pause, entschuldigte ich mich und wollte gehen. Sinan drängte mich, doch bis zum Essen zu bleiben, das sei bald. Ich schob Zeitmangel vor, vor allem wollte ich nicht mehr als Fremdkörper stören.

In der U-Bahn hatte ich wieder das Gefühl, doch im gewohnten Berlin zu sein. Bis zu diesem Tag hatte ich gedacht, Sinan würde in etwa in derselben Welt leben wie ich bzw. die anderen unserer Gruppe. Mir wurde erst jetzt bewußt, wie groß der Unterschied zwischen der deutsch-berliner und der türkisch-berliner Welt ist. Als ob wir gar nicht in derselben Stadt wohnen würden. Vielleicht zutreffender: als ob auf einer Bühne zwei ganz verschiedene Stücke gleichzeitig gespielt werden würden. Wie schlimm muß das für die sein, die in beiden Stücken ihre Rolle spielen müssen.

 

B

Ich hatte Sinan vor etwa drei Jahren kennengelernt. Er hatte infolge seiner Glücksspielsucht zwei Spielhallenüberfälle begangen und saß im Untersuchungsgefängnis. Damals war er 25 Jahre alt. Ich sollte ein psychiatrisches Gutachten über seine sog. Schuldfähigkeit erstellen.

Wir saßen in einem engen, fensterlosen Raum im Untersuchungsgefängnis. Sinan war sehr gefaßt, doch seine tiefe Traurigkeit war zu spüren. Er sprach mit monotoner Stimme, recht wenig, seine Sätze waren knapp, aber klar. Ich mußte ihn mehr oder weniger ausfragen.

Seine Lebensgeschichte in Stichworten, wie er sie mir damals berichtet hatte:

Als die Mutter mit ihm schwanger war, fuhr sie zur Entbindung in ihre türkische Heimat. Als er 11 Monate alt war, kehrte sie mit ihm nach Berlin zurück. Hier wuchs er auf. (Er ist also sowohl geborener Türke als auch quasi geborener Deutscher.)

Er hat zwei jüngere Brüder. Sein Vater ist Betriebselektriker in einem großen Berliner Betrieb.

Seine Kindheit war gut, bis er etwa 11 oder 12 Jahre alt war. Dann wurde seine Beziehung zu seinem Vater immer schlechter. „Ich fühlte mich tyrannisiert.“ Der Vater soll ihn sehr eingeengt und bevormundet haben. Auch soll der Vater ihn wie die anderen Familienmitglieder geschlagen haben.

„Ich kam nicht klar mit den Problemen mit meinem Vater.“ Beispielsweise habe er viel im Koran lesen müssen; dadurch habe er kaum Zeit für die Schulaufgaben gehabt. Klassenreisen habe er nicht mitmachen dürfen.

Als er 13 oder 14 Jahre alt gewesen sei, seien die Probleme mit dem Vater noch schlimmer geworden. Schließlich sei es zum Bruch gekommen: Mit 16 Jahren sei er – wenige Stunden nach einer besonders heftigen Auseinandersetzung mit seinem Vater – von zu Hause weggegangen, ohne anderswo eine Unterkunft zu haben.

Drei Wochen war er beim Kindernotdienst im Heim. Später kam er in ein anderes Heim und danach in eine Jugendwohnung. Sein Kommentar über diese Jahre: „war ganz gut“.

Die Realschule verließ er schon mit dem Hauptschulabschluß. Danach ging er in die Berufsschule. Seine erste Lehre mußte er wegen einer Metallallergie abbrechen. Seine zweite Lehre als Tischler hatte er fast beendet (die Gesellenprüfung habe er bestanden, jedoch habe er das Gesellenstück noch fertigmachen müssen, das sei nun durch seine Verhaftung nicht mehr möglich).

Von seinem Vater habe er sich vor allem nach der Flucht aus der elterlichen Wohnung nicht mehr als Sohn akzeptiert gefühlt. In der letzten Zeit vor den Straftaten und der Haft habe er sich mit Erfolg bemüht, die Beziehung zu seinem Vater etwas zu verbessern. Seine Beziehung zu seiner Mutter (von der er damals sehr wenig sprach) sei gut.

Schon früher habe er – so berichtete er – gute Freundschaften mit Mädchen gehabt. Die seien aber alle nicht so glücklich und schön gewesen, wie die mit Yasemin, seiner ersten Frau. Yasemin ist zwei Jahre jünger als er und arbeitet als Apothekenangestellte. Mit ihr zusammen sei er „richtig glücklich“ gewesen. Er habe die Beziehung zu Yasemin von Anfang an als Dauerbeziehung gewünscht.

Vor 2½ Jahren war ihre standesamtliche Heirat, einige Monate später die große Hochzeitsfeier. Dabei habe er auch traditionsgemäß seiner Braut ein Goldgeschenk im Wert von EUR 3.000,– gemacht. Eigentlich habe er noch nicht heiraten wollen, er habe sich jedoch dem Druck der islamischen Traditionen gebeugt. Vor der Heirat hätten sie wesentlich besser miteinander harmoniert.

Als er dies damals in der Untersuchungshaft sagte, war seine erste Ehe bereits gescheitert. Er litt also nicht nur unter den Folgen seiner Delinquenz, sondern noch mehr unter der Ehetrennung.

Auf meine Frage, ob er sich als Deutscher oder als Türke fühlen würde, sagte er: „Meine Heimat ist hier.“ Türkisch könne er schlecht. Er habe erwogen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen, sei sich jedoch noch nicht recht schlüssig gewesen.

Auf meine Fragen nach seinem sog. Primärcharakter bzw. auf die Bitte um Selbstschilderung meinte er: Typisch für sein Wesen sei, „daß ich alles in mich hineinfresse, mein Leben lang“. Primär sei er verschlossen. „Ich bin sehr anständig gewesen, bis die Sucht angefangen hat und ich auf die schiefe Bahn gekommen bin“.

Dann zur Suchtmittelanamnese: Probleme mit Alkoholkonsum habe er nie gehabt, er trinke selten Alkohol, ab und zu wenig Bier. Gelegentlich – in letzter Zeit vermehrt – habe er Cannabis geraucht und Kokain gesnieft, selten habe er Heroin „vom Blech“ geraucht. Mit Cannabis-Rauchen habe er erreichen wollen, „daß ich breit bin. Dann sieht man die Welt ganz anders.“ Intravenös habe er noch nie illegalisierte Drogen konsumiert.

Vor fünf oder sechs Jahren sei er erstmals in einer Spielhalle gewesen, mit anderen zusammen. Zunächst habe er zum Zeitvertreib an einem Punktegerät gespielt. Dann habe er versuchsweise auch einmal ein Zweimarkstück in einen Automaten geworfen. Gleich beim ersten Mal habe er für zwei Mark EUR 90,- gewonnen. „Auf einmal war das Glück da!“ Das habe ihm imponiert. Er habe jedoch zunächst nicht öfters gespielt, sondern nur ab und zu. Wenn er beispielsweise einmal in einem Imbiß gewesen sei, habe er einen „Heiermann“ eingeworfen.

In den ersten Jahren habe er selten gespielt, nur ab und zu. Vor eineinhalb Jahren habe er Auseinandersetzungen mit seiner Frau gehabt, außerdem Frust und Langeweile. In der Einzimmer-Wohnung sei es ihm zu eng gewesen, unter anderem wegen des kleinen Hundes seiner Frau. Bezogen auf Yasemin: „Ich konnte manche Sachen nicht begreifen, das hat mich aufgeregt.“ (Einzelheiten hierzu äußerte er nicht. Er klang etwas so, als sei er eifersüchtig auf den kleinen Hund gewesen).

Zur dieser Zeit, vor etwa eineinhalb Jahren „da hat es angefangen, richtig schlimm zu werden“. Er habe von diesem Zeitpunkt an wesentlich häufiger, länger und intensiver an Spielhallenautomaten gespielt. Das Glücksspiel an diesen Automaten sei für ihn eine Art Betäubungsmittel geworden, um den Schmerz über seine Partnerschaftsprobleme zu vergessen.

Jetzt halte er sich für einen süchtigen Spieler. „Sobald ich Geld in den Fingern hatte, ist das in dem Automaten gelandet.“ „Ich kam mit einem Heiermann oder EUR 20,– nicht mehr aus“, er habe größere Beträge für die Spielhallenbesuche benötigt, EUR 100,– bis EUR 200,– und noch wesentlich mehr. Sein Ziel beim Spielen sei es gewesen „Glück zu haben“ (Yasemin war ja offenbar nicht mehr sein „Glück“). Wenn er Geld in der Tasche gehabt habe, habe er gedacht: „Ich könnte mein Glück versuchen.“ „Weil ich sonst (nämlich in der Initialphase) immer gewonnen hatte“; als er noch ab und zu gespielt habe, habe er häufiger Glück gehabt, mehr gewonnen. Seit eineinhalb Jahren jedoch habe er wesentlich mehr verloren als gewonnen. „Da habe ich mich reingesteigert, um alles zurückzugewinnen“.

Seine Schulden hätten ihn sehr bedrückt, diese Schulden seien jedoch nur zum Teil spielsuchtbedingt gewesen. Für die Hochzeitsfeier hätten sie einen Kredit über EUR 8.000,– aufgenommen. Auf dem gemeinsamen Konto hätten sie einen Dispo von EUR 6.000,– gehabt, „das habe ich zweimal geplündert“.

„Ich war Tage und Nächte nicht zu Hause“, dann sei er hauptsächlich in der Spielhalle gewesen. „Entweder war ich in der Spielhalle oder auf der Bank, um Geld abzuholen.“ Oft sei er auch nicht nach Hause gegangen, weil er keinen Mut gehabt habe; er habe nämlich befürchtet, daß seine Frau Krach machen werde. „Immer mehr Krach“, „das hat mich seelisch ziemlich mitgenommen“. (Sehr ähnlich ist es bei Alkoholikern: die suchtbedingten Eheprobleme führen nicht zu einer Verringerung des Alkoholkonsums, sondern paradoxerweise zu einer Verschlimmerung, als zusätzlicher „Grund“ zu trinken.)

Von seinem Schwiegervater habe Sinan als zinslosen Kredit EUR 8.000,– zur Begleichung seiner Schulden erhalten. Diese EUR 8.000,– habe Sinan aber überwiegend verspielt. EUR 1.200,– hätten sie allerdings für eine Operation des Hündchens bezahlen müssen.

Nach seinen Erfahrungen seien die neueren Automaten, bei denen der Mindesteinsatz 40 statt 30 Pfennig betrage, interessanter und gefährlicher. Wenn man dabei 150 Spiele gewinne, bedeute dies praktisch einen Gewinn von EUR 400,–. Es sei jeweils sein Ziel gewesen, dies zu erreichen. – Er sei öfters in Spielhallen gegangen, in denen er zuletzt mehr gewonnen habe.

Er habe geglaubt, „es hängt von mir ab, wie ich drücke“ ob er gewinne oder nicht. „Mein Fehler war, daß ich nicht begriffen habe: Wenn ich was gewonnen habe, daß ich es nicht wieder reinstecke.“ Er habe im Endeffekt die Gewinne immer wieder beim Weiterspielen verloren.

Wenn die jeweilige Spielhalle leer gewesen sei, habe er öfters an allen Geräten gleichzeitig gespielt. Er habe nur an den Spielhallenautomaten gespielt. Nur einmal sei er auch im Automatencasino gewesen; die Automaten dort seien für ihn nicht so interessant.

Wenn er wegen GelEURangels nicht habe spielen können, sei er innerlich unruhig gewesen.

Yasemin habe seine Spielsucht erkannt und öfters gesagt: „Geh, mach‘ ’ne Therapie“. Beispielsweise hätte er zu einer Selbsthilfegruppe gehen sollen. Yasemin habe eine Beraterin gefragt und eine Adresse gehabt. Sinan sei jedoch nicht dorthin gegangen, weil er sich geschämt habe: „Ich konnte nicht irgendeinem Fremden das erzählen. Ich wollte es nicht zugeben“, daß er süchtig ist. Seine Frau habe es immer wieder versucht, erfolglos.

Seine Eltern hätten keine Ahnung von seiner Glücksspielsucht.

Bis vor ¼ Jahr sei er zwei Monate lang auf Druck seiner Frau spielfrei („clean“) gewesen. Dann sei es zum Rückfall gekommen, als er restliches Gehalt in Höhe von EUR 800,– bekommen habe. Dies habe er innerhalb von zwei bis drei Stunden verspielt. Mit seiner Frau habe es daraufhin einen „Riesenkrach“ gegeben. Das sei ein bis zwei Wochen vor seinem Spielhallenüberfall gewesen.

Hinterher hätten sie sich wieder vertragen, „sie hat mir noch eine Chance gegeben“. Aber sie habe ihm gesagt, daß sie sich entschlossen habe, sich von ihm trennen. Er hänge sehr an seiner Frau. Auch wenn sie nicht unter dem Druck der traditionsgebundenen Eltern hätten heiraten müssen: „Ich wäre mit ihr bis an mein Lebensende zusammengeblieben.“

In den letzten drei bis vier Wochen vor der Gesellenprüfung hätte er eigentlich sein Gesellenstück machen sollen. Zu dieser Zeit sei er jedoch „psychisch krank“ gewesen. Er habe öfters bei der Arbeit gefehlt. Zu dieser Zeit habe er sein Gehalt verspielt, „Krach mit meiner Frau“, „auf nichts Bock“. Um sich zu beruhigen, habe er Cannabis geraucht, „weil ich meine komischen Gedanken weghaben wollte, wegen meiner Probleme“. „Ich sank immer mehr runter.“

Öfters habe er Suizidgedanken gehabt, insbesondere in letzter Zeit, als seine Situation sich so verschlimmert habe.

Auf meine Frage, wie er bzw. sein Mittäter auf die Idee gekommen seien, die Spielhallen-Überfälle zu begehen: Eigentlich hätten sie die Taten gar nicht geplant. Die Idee zum 1. Spielhallenüberfall sei spontan gekommen, als sie in der dortigen Gegend gewesen seien: „Ich weiß nicht – weil wir kein Geld hatten – zum Daddeln, ich wollte auch einen Teil der Schulden abzahlen.“

Nach dem ersten Spielhallenüberfall seien sie bis sieben Uhr morgens in Spielhallen gewesen. Er habe in dieser Nacht EUR 1.800,– „rausgeholt“ bzw. gewonnen. „Jeder Automat fast hat geschmissen.“

Am Morgen nach der ersten Tat sei er zur Arbeit gegangen und habe Brötchen mitgebracht. Er habe sich dann entschuldigt, er fühle sich nicht gut und müsse nach Hause gehen. Er habe wirklich nach Hause gehen wollen, sei jedoch in die nächste Spielhalle gegangen. Dort habe er vier bis fünf Stunden gespielt. Dann sei das ganze erbeutete und das dazugewonnene Geld weggewesen.

Vielleicht habe er sich durch den Überfall das Geld, das er schon in die Glücksspielautomaten geworfen habe, zurückholen wollen: „Weil man viel Geld da reinschmeißt – so war es vielleicht in meinem Unterbewußtsein.“

Bei seiner polizeilichen Vernehmung nach dem 2. Überfall habe er die erste Straftat selbst preisgegeben, sie sei der Polizei noch nicht bekannt gewesen. Er habe nämlich ein „schlechtes Gewissen“ gehabt; „trotzdem konnte ich das nicht sein lassen.“

An dem Abend des zweiten Spielhallenüberfalls habe sein Mittäter ihn unerwartet zu Hause angerufen und gesagt, er solle in die Spielhalle kommen und ein Messer mitbringen. Das habe er dann gemacht …

In der U-Haft habe er sich überlegt, daß er solche unrechtmäßigen Verhaltensweisen bestimmt nicht gezeigt hätte, wenn er nicht süchtiger Glücksspieler geworden wäre.

 

C

Damals bei der Begutachtung lernte ich auch seine Eltern und seinen jüngsten Bruder, an einem anderen Tag Yasemin, seine geschiedene Frau kennen. Sie waren zu mir in mein Arbeitszimmer im Krankenhaus gekommen.

Mit den Eltern wollte ich über die Problementwicklung reden. In solchen Situationen sprechen nach meinen Erfahrungen meist die Mütter. Diesmal war es nicht so. Bewußt wandte ich mich mehrmals an die Mutter und fragte sie etwas, sie verstand mich offensichtlich, sagte aber nichts, sondern ließ ihren Mann antworten. Ich ließ nicht locker, wandte mich wieder an sie und fragte sie etwas; sie sprach auf türkisch zum Vater, der dann für mich übersetzte. Ich war mir sicher, daß sie ausreichend deutsch konnte. Schließlich gab ich es auf.

Der Vater war der absolute Mittelpunkt, er war der Patriarch (Herrscher-Vater) in dieser Familie. Trotzdem war er zu seiner Frau freundlich. (Vielleicht war er ihr gegenüber mitunter fast etwas gönnerhaft, aber das war nur meine Empfindung als Frauenrechtler. Meine Frau hätte das in einer vergleichbaren Situation garantiert nicht so mitgemacht, selbst wenn ich die Landessprache besser beherrschen würde als sie.) Der Vater war überzeugt von seiner islamischen (islamistischen?) Religion. Mitunter schien er – kämpferisch und siegessicher, dabei immer freundlich – mich bekehren zu wollen.

Wegen sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten zwischen dem Vater und mir habe ich nicht viel an direkten Informationen erfahren: Die Mutter und der Bruder hätten noch Kontakt zu Yasemin; der Vater lehne sie ab, weil sie kein Kopftuch trage etc. Von ihr wüßten sie, daß Sinan einmal an einem Abend 800 Mark verspielt habe; „das war nicht das erste Mal!“, „er verspielt das ganze Geld!“

Zwischen dem Vater und Sinan bestehe seit Jahren kaum Kontakt wegen unterschiedlicher religiöser Auffassungen; der Sohn wolle nicht die des Vaters übernehmen. – Der Vater habe nach seinem Bericht schon früher andere Auffassungen als die „kommunistischen“ Lehrer von Sinan gehabt. Bspw. sei er gegen die Überbetonung des Sportunterrichts gewesen: „Die besten Sportler sind die Affen!“

Der mittlere Sohn sei auch schon im Untersuchungsgefängnis gewesen. Der Vater habe ihn in die Türkei geschickt. Jetzt bereite er keine Probleme mehr …

Konkrete anamnestische Angaben waren nur mit Mühe und spärlich zu erhalten. Die Äußerungen des Vaters waren für mich zum Teil schwer verständlich. Hingegen konnte die Familienatmosphäre recht eindrucksvoll erlebnismäßig nachempfunden werden. Schon als ich bei den Eltern angerufen hatte, um mit ihnen einen Gesprächstermin usw. zu vereinbaren, war zunächst die Mutter dran, gab aber den Hörer sofort an ihren Mann weiter, obwohl ich betont hatte, daß ich mit ihr sprechen wolle. – Auch bei der Besprechung in meinem Zimmer im Krankenhaus saß die Mutter schweigend dabei; wenn ich sie fragte, antwortete der Vater, der absolut dominierte. Nur selten beantwortete sie meine Fragen, indem sie türkisch zu ihrem Mann sprach, der dann übersetzte. – Die Mutter erschien emotional erheblich tangiert von den Problemen ihres Sohnes. Der Vater vertrat recht kämpferisch-selbstsicher (fundamentalistische?) islamische Auffassungen; er gab sich, als ob er nun über die Auffassungen seines ältesten Sohnes gesiegt habe. Die Mutter verhielt sich demütig ihrem Mann gegenüber, er gab sich ihr gegenüber gütig.

 

Einige Tage später lernte ich Yasemin, Sinans erste Frau kennen. Sie erschien in Begleitung des jüngsten Bruders von Sinan, der sie mit dem Auto gefahren hatte, wirkte aber völlig emanzipiert wie eine junge Berlinerin. Im krassen Gegensatz zu seinen Eltern war sie durch und durch eine junge europäische Großstädterin. Als Apotheken-Mitarbeiterin war sie sozial voll integriert. Sie wirkte attraktiv, gab sich selbstsicher und eher „cool“ gegenüber den Problemen ihres Mannes.

Von Yasemin erfuhr ich im Wesentlichen:

Mehrmals habe er ihr Konto geplündert, für das er bis vor einem Jahr eine Vollmacht gehabt habe. Mehrmals habe er das Konto bis zum Dispo-Limit überzogen.

Vor etwas über einem Jahr habe er einige Tausend Mark in einer Nacht verspielt. Er habe in dieser Nacht an mehreren Automaten Geld von ihrem Konto abgehoben. – Ein anderes Mal habe sie herausbekommen, daß er 3.000 Mark verspielt habe.

Fünf- oder sechsmal habe sie bemerkt, daß er höhere Summen vom Konto abgehoben hatte. Anfangs habe er verschiedene Gründe bzw. Ausreden für die hohen Geldausgaben genannt. Später habe er ihr gesagt, daß er beim Glücksspiel Pech gehabt habe; da habe sie angenommen, er habe einmalig gespielt.

Schließlich habe er ihr vor einem Jahr gestanden, daß er häufig an Automaten spiele. Er habe sich bemüht, sein Verhalten zu ändern, und sie gebeten, ihm Geld zuzuteilen. Sie sollte die Regelung der finanziellen Dinge übernehmen und ihm nur ein Taschengeld geben.

Zur Sucht-Beratungsstelle habe er trotz ihres Drängens nicht gehen wollen. „Entweder kannst du mir helfen, oder keiner kann mir helfen“, sagte er zu ihr.

Er habe auf keinen Fall mehr spielen wollen; sie habe ihm vertraut; „manchmal ging’s“. Bei Rückfällen sei er recht verzweifelt gewesen und habe dann gesagt: „Irgendwann muß ich es doch ‘mal begreifen.“ Ein oder zwei Monate lang habe er offenbar tatsächlich nicht gespielt.

Zwei Monate lang habe er eine neue Arbeitsstelle gehabt. Dort habe er sich sehr bemüht, sei jeden Tag pünktlich hingegangen, „völlig o.k.“. Er habe von dort ein „Superzeugnis“ erhalten.

In der letzten Zeit sei er manchmal zuverlässig, manchmal überhaupt nicht zuverlässig gewesen; an sich sei er sehr zuverlässig. „Er hat manchmal Aussetzer gehabt.“ Öfters habe er sich krankschreiben lassen, weil er sich nicht wohl gefühlt habe. Es sei an sich nicht seine Art, seine Dinge schleifen zu lassen. Er sei egoistischer und sehr reizbar geworden, „er ging leicht in die Luft“. So war er vorher nicht: „Den konnte man nicht so leicht aus der Ruhe bringen“ (der jüngste Bruder von Sinan bestätigte dies). – Er habe sich zu seinem Nachteil verändert. „Er war früher nicht so.“

Mehrere Male habe er die Miete nicht bezahlt. – Sie schätzt, daß er mindestens 20.000 EUR verspielt hat.

In der Zeit seines ersten Spielhallenüberfalls sei sie für eine Woche in der Türkei gewesen. „Man kann ihn nicht allein lassen!“

Sie sei durch ihre Erziehung sehr selbständig. Anders als ihr Mann habe sie eine sehr gute Beziehung zu ihrem Vater. Ihr Vater habe 8.200 EUR für die Schulden ihres Mannes gegeben; sie zahle diese Summe in Raten zurück.

Vor ca. einem Monat habe sie die Scheidung eingereicht. Er habe im türkischen Konsulat sein Einverständnis erklärt.

 

D

Sinan schilderte bei dem Begutachtungsgespräch die typische Symptomatik und den typischen Verlauf einer Glücksspielsucht. Die Definitionen bzw. Symptombeschreibungen der international verbindlichen psychiatrischen diagnostischen Manualen DSM-III-R/IV und ICD-10 treffen bei ihm zu, wenn man seiner – nach klinischen Eindruck glaubwürdigen – Darstellung folgt.

Als er erstmals mit einem 2-Mark-Stück an einem Spielhallen-Glücksspielautomaten gespielt habe, sei ohne sein Zutun ein relativ hoher Gewinn (insgesamt 90 Mark) eingetroffen: „Auf einmal war das Glück da!“ – Viele Spieler berichten wie Sinan, daß sie früher, vor allem bei ihren ersten Casino- bzw. Spielhallenbesuchen überwältigende Erfolgserlebnisse (Big-Win-Erlebnisse, „Glücks“-Erlebnisse) gehabt hätten. Ganz offensichtlich führt ein solches Erlebnis zu einem magischen Denken, zu anhaltenden irrationalen Einstellungen, vor allem bei depressiv eingestellten Menschen mit Selbstwertproblematik.

Auf dieser Basis hat sich bei ihm nach und nach eine Glücksspielsucht entwickelt, als nach der durch die islamischen Traditionen erzwungenen frühen Hochzeit und vermutlich durch seine Eifersucht auf den kleinen Hund seiner Frau seine Partnerschaftsproblematik begann. Zum zweitenmal in seinem jungen Leben war sein Zuhause bzw. sein Familienzusammenhalt, seine psychosoziale Basis bedroht.

In solchen psychisch belastenden Situationen ist Glücksspiel wie jedes Suchtmittel ein wirksames Betäubungsmittel, mit dessen Hilfe die Probleme der Realität vergessen, abgeschaltet werden können. Typisch für eine Suchtentwicklung: In der Scheinwelt der Spielhalle fühlte Sinan sich wohler als in der Realität zu Hause („Krach“ mit seiner Frau, vor allem wegen der glücksspielbedingten hohen Geldausgaben). Wegen der magischen Anziehungskraft der Spielhalle gegenüber den Problemen zu Hause („immer mehr Krach – das hat mich seelisch ziemlich mitgenommen“) sei er Tage und Nächte nicht zu Hause gewesen. Er wich aus in den Suchtmittelkonsum, statt seine Partnerschaftsprobleme zu lösen zu versuchen. Durch dieses Ausweich- und Fluchtverhalten verschlimmerte er seine Partnerschaftskrise noch mehr (suchttypischer Circulus vitiosus, „Teufelskreis“). Durch diese Eigendynamik schreitet die Suchtentwicklung fort.

„Sobald ich Geld in den Fingern hatte, ist das in dem Automaten gelandet.“ „Ich kam mit einem Heiermann oder 20 Mark nicht mehr aus.“

Obwohl Sinan in immer größere Schulden geriet, mehrmals die Miete verspielt, das Konto seiner Frau „geplündert“ und wegen seiner glücksspielbedingten hohen Geldausgaben seine (in der ersten Zeit anscheinend echt „glückliche“) Partnerschaft zunehmend gefährdet hatte, spielte er weiter, sogar möglichst noch intensiver. Eigentlich wäre es ja sein wirkliches Interesse bzw. seine biographische Aufgabe gewesen, sich um den Verbesserung seiner Partnerschaft und sein Gesellenstück zu kümmern. Durch seine fortschreitende Suchtkrankheit war er dazu nicht mehr fähig.

Die Verlusterlebnisse beim Glücksspielen tangierten ihn anscheinend kaum, umso mehr die (selteneren) Erfolgserlebnisse.

Sinan habe in typischer Weise auch seine Gewinne meist wieder verspielt. „Mein Fehler war, daß ich nicht begriffen habe: Wenn ich ‘was gewonnen habe, daß ich es nicht wieder reinstecke.“ Er habe geglaubt, „es hängt von mir ab, wie ich drücke“, dabei habe er eigentlich „gewußt“, daß er in Wirklichkeit den Spielablauf im Automaten gar nicht beeinflussen kann (diese Täuschung ist als psychologischer Trick von den Automaten-Konstrukteuren beabsichtigt).

Das zwangsartige Verlangen, an den Spielhallen-Glücksspielautomaten zu spielen, wurde von Sinan (wie von den meisten Glücksspielern) kaum verbalisiert, ergibt sich jedoch indirekt aus der Anamnese, u.a. aus seinem Bericht, daß er das beim ersten Raubüberfall erbeutete Geld innerhalb von nicht einmal einem Tag in Spielhallen verspielt habe.

Sinan hätte wahrscheinlich die ihm vorgeworfenen Straftaten nicht begangen, wenn er nicht süch­tiger Glücksspieler geworden wäre. Denn wenn er nicht süchtig gespielt hätte, wäre sein Geldbedarf nicht so ausweglos angestiegen. Andere Möglichkeiten der Geldbeschaffung als eine Straftat habe er nicht gehabt bzw. nicht gesehen. Ein Außenstehender wird sehr wahr­scheinlich annehmen, Sinan hätte doch aufhören können, sich an Glücksspielen zu beteiligen. Diese Freiheit hatte er jedoch gerade nicht mehr; er war nicht mehr fähig aufzuhören: Nach immer wieder bestätigten klinischen Erfahrungen setzt ein süchtig gewordener Mensch den Konsum seines Suchtmittels trotz (bzw. sogar wegen) der psychischen und sozialen Folgeschäden fort.

Offensichtlich waren für Sinan nach seinen Mißerfolgen und Enttäuschungen in der Partnerschaft („Krach“) die (seltenen, aber bei geduldigen Weiterspielen irgendwann doch eintretenden) Erfolgserlebnisse/“Glücks“-Gefühle von größter Wichtigkeit. Daß er jedoch wesentlich häufiger Verluste hatte, verblaßt dagegen bei einem süchtigen Glücksspieler wie Sinan als Erlebnis in der Erinnerung, da nach den Erfahrungen mit dem menschlichen Lernen positive Erlebnisse (Erfolg) bei den meisten Menschen – vor allem bei süchtigen Glücksspielern – das Verhalten wesentlich nachhaltiger beeinflussen als negative. (Ohnehin reflektieren Suchtkranke typischerweise kaum über ihr süchtiges Verhalten und tendieren stark zu Selbsttäuschungen und irrationalen Selbsteinflüsterungen.)

Seine Stimmung bzw. Lebenseinstellung in der letzten Zeit vor den Straftaten scheint typischerweise geprägt gewesen von resignativen Selbsteinflüsterungen wie von dem Gedanken: „Jetzt ist auch alles egal.“

Typischerweise zunächst erfolglos habe Sinan gegen die Eskalation seiner Sucht und deren Folgen angekämpft, was auch seine Frau bestätigte. Zwei Monate sei es ihm gelungen, nicht zu spielen. Dann sei er rückfällig geworden, als er (ebenfalls typisch) eine größere Geldsumme zur Verfügung hatte. Rückfall in das süchtige Verhalten ist in der Praxis der Suchtarbeit ein häufiges Ereignis; es liegt nahe, ein solches Verhalten als mehr oder minder parasuizidal zu interpre­tieren. – Konkret: Seine für eine Verhaltens­korrektur notwendigen Gefühle, nämlich seine Trauer über die zunehmende Verschlechterung seiner Ehe betäubte er typischerweise durch das Glücksspielen.

Sinan gab an, daß er geglaubt habe, sein bereits an den Automaten verlorenes Geld durch Weiterspielen zurückgewinnen zu können. Dieses Symptom „Chasing“ (engl. Aufholjagd) ist für Glücksspielsucht sehr typisch:

 

E

Die derzeitige Mainstream-Psychotherapie geht davon aus, daß Sucht nur ein Symptom einer psychischen Grundstörung sei. Viele dieser Psychotherapeuten nehmen bei Glücksspielern an, bei diesen würde als „Ursache“ der Sucht eine sog. „narzißtische Persönlichkeitsstörung“ bestehen. In der international verbindlichen ICD-10 ist diese psychische Störung nicht verzeichnet. In das DSM-IV ist sie aus pragmatischen Gründen aufgenommen worden; die dort genannten diagnostischen Kriterien treffen auf Sinan nicht zu.

Nach alten suchtpsychiatrischen Erfahrungen kann jeder Mensch süchtig werden, der ein Suchtmittel konsumiert. Die Gefahr ist erhöht bei Suchtmitteln mit hohem Suchtpotential. Sie ist auch erhöht, wenn der Konsument das Suchtmittel wie ein Betäubungsmittel gegen psychische Schmerzen einsetzt. Dies bedeutet, daß Menschen, die von Problemen belastet sind und deshalb Suchtmittel konsumieren, erhöht gefährdet sind, in eine Suchtentwicklung zu geraten.

Bei Sinan waren es die Partnerschaftsprobleme. Typisch: Suchtmittel helfen anfangs gut gegen den Problemdruck, man kann die Probleme für eine Weile vergessen. Aber: dadurch wird der Versuch verhindert, die Probleme zu lösen. Und durch die Suchtfolgen werden die Probleme noch größer; Sinans Ehe wurde durch das Glücksspiel noch schlechter und scheiterte schließlich. Vielleicht wären die beiden mit ihren Problemen zurechtgekommen, wenn Sinan nicht in die Spielhalle ausgewichen wäre.

Es läßt sich darüber spekulieren, warum Sinans anfangs so glückliche Partnerschaft sich so verschlechtert hat. Naheliegend ist, zu vermuten, daß Sinan in seiner Herkunftsfamilie eine andere Rolle der Frau kennengelernt hatte: seine Mutter hatte sich seinem Vater sehr untergeordnet, was Yasemin mit Sicherheit nicht getan hat. Wie erlebte er seine Rolle als Mann? Ist es ein Zufall, daß sie sich vor der durch die islamische Tradition erzwungenen frühen Heirat glücklicher gefühlt hatten?

Vielleicht hat auch noch sein alter Konflikt mit seinem Vater nachgewirkt und ihn zusätzlich belastet.

 

F

Suchtkrank gewordene Menschen leiden und litten primär oft (auch) unter den Folgen von Beziehungsstörungen in ihren Herkunftsfamilien: In der Suchtkrankentherapie ist es immer wieder überraschend, wie aktuell noch nach vielen Jahrzehnten oft die Probleme der – meist innerfamiliären – Probleme der Kindheit und Jugendzeit sind.

Schon länger ist in der Praxis auffällig, daß bei Glücksspielern noch häufiger als bei Alkoholkranken oder Drogenabhängigen ein in Pubertät und Adoleszenz aufflammender Vater-Sohn-Konflikt, der das in dieser Lebensphase übliche typische Ausmaß übersteigt, bestand bzw. eigentlich immer noch besteht. Dieser scheint besonders häufig den Hintergrund einer Selbstwertproblematik darzustellen. Generationskonflikte zwischen Vater und Sohn waren früher in patriarchalischen Gesellschaften noch häufiger als heute und haben auch wichtige Funktionen für die psychische Entwicklung. Heute kommen sie anscheinend vor allem in patriarchalisch strukturierten, bspw. in türkisch-muslimischen Familien vor.

Bei Sinan ist davon auszugehen, daß ihn die vor allem in seiner Adoleszenz gestörte Beziehung zu seinem Vater auch später noch belastete. Deshalb scheint seine Selbstwertproble­matik darauf zurückzu­führen sein, daß er sich wegen der Beziehungsstörung zwischen ihm und seinem Vater nicht im entsprechendem Lebensalter von seinem Elternhaus ablösen (psychische „Abnabelung“) konnte. Er selbst meint, daß dies „alte Geschichten“ seien. (In der Klinik ist jedoch immer wieder zu erleben, daß selbst über 50 Jahre alte Patienten während der Therapie über traumatisierende Zusammenstöße mit bspw. ihrem Vater sprechen, als ob diese vor wenigen Tagen und nicht vor über 35 Jahren geschehen seien. Solche Kränkungen des Selbstwertgefühls sind vergleichbar mit offenen Wunden, die noch nach vielen Jahren nicht verheilt sind und ihre Auswirkungen auf die aktuelle Verfassung haben.)

Die Suchtkrankheit von Sinan steht demnach in ursächlichem Zu­sammenhang und in Wechselbeziehungen zu seinen primären psychischen Problemen mit seinem Vater. Nach dem vorliegenden anamnestischen Material läßt sich annehmen, daß Sinan (primär) an einer Selbstwertproblematik auf dem Boden eines persistierenden Ablösungskonfliktes mit seinem Vater litt. Vor allem in dem Buch von Petry (Psychotherapie der Glücksspielsucht, 1996) wird hingewiesen auf „die glücksspielertypische Beziehung zwischen problematischer Vaterbeziehung, vermindertem Selbstwertgefühl, erhöhter Leistungsorientierung und gestörter Beziehungsbildung“. Custer wies 1985 darauf hin, welche eminente Bedeutung oft im Vorfeld einer Glücksspielsucht die unbefriedigende Beziehung zu dem kompromißlosen, kalten und distanzierten Vater hat; denn diese ermöglicht es dem Sohn nicht, ein positives Selbstbild oder das Gefühl der eigenen Wichtigkeit zu entwickeln.

Sinans Vater – der vor einigen Jahren noch auch einem ihm Fremden (mir) gegenüber kämpferisch seine radikale islamische Einstellung bekannte – soll ihn früher stark eingeengt und unterdrückt haben, so daß Sinan mit 16 Jahren nach einem heftigen Streit mit dem Vater kurzschlussartig das Elternhaus verlassen hat. Er befand sich damals in großer psychischer Not und erlitt seelische Wunden, die lange Zeit nicht verheilen konnten.

Es ist sicherlich gut nachvollziehbar, daß ein Sohn die Anerkennung und Bestätigung durch die väterliche Bezugsperson benötigt, um ein gesundes Selbstwerterleben zu entwickeln. Ein despotischer Vater gibt jedoch nicht diese Anerkennung, im Gegenteil, und behindert dadurch die Autonomieentwicklung des Sohnes.

Nach dem vorliegenden anamnestischen Material läßt sich demnach annehmen, daß Sinan (primär) an einer Selbstwertproblematik auf dem Boden eines persistierenden Ablösungskonfliktes mit seinem Vater litt. Mit anderen Worten: Es ist sehr wahrscheinlich bei Sinan davon auszugehen, daß ihn die vor allem in seiner Adoleszenz gestörte Beziehung zu seinem Vater auch in seiner partnerschaftlichen Krisensituation und im Zeitraum vor seinen Straftaten erheblich belastet, labilisiert und behindert hat. Seine Selbstwertproblematik ist offenbar darauf zurückzuführen, dass er sich wegen der Beziehungsstörung zwischen ihm und seinem Vater nicht im entsprechendem Lebensalter von seinem Elternhaus ablösen konnte (psychische „Abnabelung“). Er selbst meinte allerdings, daß dies „alte Geschichten“ seien.

Wie bei vielen Betroffenen scheint auch die Suchtkrankheit von Sinan nach klinischen Erfahrungen in ursächlichem Zusammenhang und in Wechselbeziehungen zu seinen primären psychischen Problemen zu stehen, den früheren und ohne Zweifel für ihn auch im Zeitraum seiner biographischen Krise (Zerbrechen der Partnerschaft, Straftaten und Haft) immer noch aktuellen Problemen mit seinem Vater.

 

G

Sinan ist Berliner wie wir anderen auch. Nach seinem Pass ist er jedoch Türke. Er fühlt sich aber eher als Deutscher. Als „richtigen“ Deutschen wird er aber von kaum jemandem gesehen. Er ist in der typischen psychosozialen Situation eines Migranten der 2. Generation.

Die Migrations-Psychiatrie ist seit Jahren zu einem Spezialfach der Psychiatrie geworden und spielt eine noch zunehmende Rolle. Insbesondere die türkischen Mitbürger sind relativ häufig psychisch krank. Der Anteil der türkischen unter den ausländischen Patienten eines großen Hamburger Krankenhauses mit psychiatrischem Schwerpunkt hat zwischen 1993 und 1995 von 26 über 31 auf über 34% zugenommen.

Da unter den 2,5 Mill. Moslems in Deutschland 80% Türken sind, sind islamische Aspekte in diesem Zusammenhang von sehr großer Bedeutung. Prof. Heitmeyer und Mitarbeiter berichteten ausführlich in der Zeitung „Die Zeit“ vom 23.08.96 über die Veränderungen, auch der islamischen Religion, in der türkischen „schwer durchschaubaren Parallelgesellschaft am Rande der Mehrheitsgesellschaft“ in Deutschland, die sich von der westlichen Welt und deren Werten abschotte und „ihre eigene soziale und religiöse Welt geschaffen“ habe.

Besonders alarmierend ist nach Heitmeyer die Entwicklung der 2. Generation. Die Kinder der Gastarbeiter sind als „Ausländer“ in Deutschland nicht zu Hause, aber auch in der Türkei sind sie als „Alemanci“ ausgegrenzt. Sie sind „hin- und hergerissen zwischen traditionellem Elternhaus und westlicher Individualisierung“. Sie sind „abgelehnt von der fremden deutschen Umgebung und wurzellos in der ähnlich fremden türkischen Gesellschaft“.

Dies traf offensichtlich bei Sinan in seiner beginnenden Pubertät und Adoleszenz besonders ausgeprägt zu. Bemerkenswerterweise wird in dem Zeitungsartikel berichtet von einem 22-jährigen Türken, der jetzt gläubiger Muslim sei und von seiner Vergangenheit sagte: „Mein Leben war Dreck. Spielhallen waren mein Zuhause. (…)“ Dabei würden nach Heitmeyer die jungen Berliner türkischer Abstammung sich der deutschen Gesellschaft eher zugehörig fühlen. Sinan berichtete, daß er erwogen habe, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen, es jedoch noch nicht getan habe, weil er nicht wisse, was besser für ihn sei.

Im Jahrbuch Sucht 97 der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren heißt es zu dieser Thematik: „Die jungen Leute der 2. Generation der hier lebenden Migranten haben es leichter und schwer zugleich. (…) Sie leben jedoch in einem großen Konflikt zwischen den Kulturen. Das Elternhaus hält an den Traditionen des Herkunftslandes fest und ist auf Rückkehr in die Heimat orientiert. Die jungen Heranwachsenden stehen in einem ständigen Zwiespalt und finden kaum Identifikationsfiguren. Die Entwicklung einer eigenen Ich-Identität wird dadurch fast unmöglich. (…) Auch für Nicht-Deutsche muß der Grundsatz ‘Hilfe statt Strafe’ oberstes Gebot sein.“

In dem Sammelband „Psychologie und Pathologie der Migration – deutsch-türkische Perspektiven (Lambertus-Verlag 1995) berichten Toker und Schepker von 10 begutachteten Jugendlichen und Heranwachsenden aus der Türkei. 2 der 10 Probanden waren süchtige bzw. exzessive Spieler. – Atabay weist auf die besonderen Probleme türkischer Migrantenjugendlicher in der Identitätsentwicklung hin. Viele Immigrantenjugendliche würden als eine „verlorene Generation“ betrachtet werden. – Zimmermann macht darauf aufmerksam, daß – wie bei Sinan – bei Ausländerkindern die ohnehin schwierige Phase der Pubertät bzw. Adoleszenz besonders konfliktträchtig ist. – Im Hamburger Ärzteblatt wurde die Ausländerproblematik ausführlich 1993 thematisiert. Hingewiesen wird auf die ausgeprägt patriarchalische Struktur der islamischen Familien (was sich auch beim Gespräch mit den Eltern anläßlich der Begutachtung zeigte) und auf die Problematik der Kinder aus diesen Familien, die „in zwei Gesellschaften leben“ müßten. – In der Ärzte-Zeitung vom 10.10.96 heißt es hinsichtlich der besonderen psychischen Störanfälligkeit und „Zerrissenheit“ der Angehörigen der 2. Generation: „Als Ursache gelten Widersprüche zwischen erlebter Moderne in der Gesellschaft und dem traditionellen Gefüge in der Familie.“

Wohl die Mehrzahl der deutschstämmigen Berliner sind einerseits fasziniert vom Islam und haben Multikulti gern, andererseits haben sie Angst vor den totalitären islamischen Strömungen. Der Islam hatte für die abendländische Geschichte eine große Bedeutung; u. a. war er maßgeblich beteiligt an der Erhaltung der antiken Schriften. Es berührt eigenartig, daß die türkisch-deutschen Frauen in ihrer Heimat kein Kopftuch tragen müssen bzw. dürfen. In mancher Hinsicht besteht in Berlin freiheitlich-demokratische Toleranz gegenüber Intoleranz.

Es wäre schön, wenn Sinan ein Berliner wäre wie wir anderen auch; leider ist es nicht ganz so.

 

H

Ein suchttypischer Teufelskreis: Ein Glücksspieler wie Sinan hat Stress mit seiner Partnerin wegen der glücksspielbedingten hohen Geldausgaben und ändert keineswegs sein Glücksspielverhalten, sondern intensiviert sein Glücksspiel, um die negativen Gefühl zu betäuben, wodurch sich seine Beziehung zu seiner Frau weiter verschlechtert usw..

Bei der Bewältigung von Lebensproblemen haben nach psychiatrischen Erfahrungen Menschen mit Sozialisationsdefiziten meist ohnehin eine geringere Bewältigungskompetenz. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß Sinan als Berliner mit türkischer Staatsangehörigkeit und als Angehöriger der „2. Generation“ in einer für die Identifikation entscheidenden Lebensphase psychisch stark belastet wurde. Menschen mit Selbstwertproblematik und unverarbeiteten psychischen Traumatisierungen – wie bei Sinan sein Konflikt mit seinem Vater bzw. die schwere Beziehungsstörung zwischen ihnen seit der Praepubertät von Sinan – geraten bei Überforderung leicht in depressive Verstimmungen. In eine solche geriet Sinan während seiner – vor allem glücksspielbedingten – Ehekrise, die ihn psychisch überforderte.

In der Zeit vor und während seiner Straftaten bestand bei Sinan durch seine psychische und psychosoziale Gesamtsituation, vor allem durch den Partnerschaftskonflikt eine reaktive Depression. Das Glücksspiel an den Spielhallenautomaten stellte für ihn eine – für den Moment wirksame, jedoch langfristig gesehen dysfunktionale und schädliche – antidepressive Selbstbehandlung dar.

Dies ergibt sich kennzeichnend aus einem Brief von Sinan an den Richter: „(…) Dieser ganze Streß machte uns sehr zu schaffen, vor allem mir. Meine Frau tröstete sich mit der Freude an dem Hund. Irgendwann fing ich dann an, mit den verfluchten Geldautomaten in den Spielhallen zu spielen, ich weiß nicht, vielleicht mit der Hoffnung, immer wieder zu gewinnen, nur, weil ich ein- bis zweimal oder sogar dreimal gewonnen hatte. Mich zogen diese Geräte magisch an, ehe ich mich versehen hatte, war ich auch schon süchtig nach den verdammten Daddelkästen. Dadurch stiegen auch meine Schulden erheblich und gingen drastisch in die Höhe. (…) Bin sehr früh vom Elternhaus raus, weil mein Vater strenggläubiger Islamist ist. Aber das sind alles alte und lange Geschichten. (…)

 

I

Sinan geriet durch seine Glücksspielsucht, wie etwa die Hälfte der süchtig gewordenen Glücksspieler, in eine Beschaffungsdelinquenz. Denn es ist typisch für eine teure Suchtform, daß im fortgeschrittenen Stadium der Suchtentwicklung durch eine negative Persönlichkeitsveränderung („ethische Depravation“) bei Beschaffungsschwierigkeiten auch ethisch negative Verhaltensweisen eintreten.

So ist es bemerkenswerterweise der jungen (ersten) Frau von Sinan aufgefallen, daß ihr Mann sich zu seinem Nachteil verändert hat: Er sei egoistischer und reizbar geworden, „er ging leicht in die Luft“, während er primär recht gelassen gewesen sei, „den konnte man nicht so leicht aus der Ruhe bringen“, was der jüngste Bruder bestätigte. Zudem sei er unzuverlässig geworden. Gegen seine sonstige Art habe er seine Dinge zeitweilig schleifen lassen. „Er war früher nicht so.“ – Sinan selbst sagte schon in der Untersuchungshaft, daß er sich negativ verändert habe: „Ich bin sehr anständig gewesen, bis die Sucht angefangen hat und ich auf die schiefe Bahn gekommen bin.“ „Ich sank immer mehr runter.“

Bei der Exploration für das Gutachten wirkte Sinan nicht „depraviert“; allerdings sagt der psychopathologische Befund einige Monate nach dem Tatzeitraum ohnehin nur wenig über die sog. Tatzeitpersönlichkeit aus. Suchtbedingte Persönlichkeitsveränderungen können sich innerhalb von Wochen zurückbilden.

Das intensive Glücksspiel war Sinans wichtigster Lebensinhalt, sein oberster Daseinswert geworden. Er betrieb dieses mit großer Intensität, obwohl er dadurch viel Geld verlor, seine Ehe gefährdete und seine Berufsausbildung vernachlässigte. Für das Glücksspiel benötigte er große Geldsummen, wodurch er sich erheblich verschuldete.

In typischer Weise mußte er sich unter dem Druck seiner Sucht und seiner Schulden um nahezu jeden Preis Geld – vor allem zum Weiterspielen – beschaffen. Menschen in seiner Situation werden nach klinischen Erfahrungen zunehmend anfällig dafür, sich auf illegale Weise Geld zu beschaffen. Erfahrungsgemäß ist es in der Regel von den gerade bestehenden Gegebenheiten, auch von Zufälligkeiten abhängig, welche Art von Straftat ein süchtiger Glücksspieler begeht, um an Geld zum Weiterspielen und zum Begleichen drückender Schulden zu kommen.

Im Hinblick auf Beschaffung und Konsum seines Suchtmittels, vor allem die Beschaffung von Geld für das Glücksspielen war es bei ihm zu einer Umorientierung der sozialen bzw. ethischen Werte-Hierarchie, damit zu einer ausgeprägten suchtbedingten Persönlichkeitsveränderung („Depravation“) mit einer Verminderung der Fähigkeit, sozial verantwortlich zu denken und zu handeln, gekommen.

Anscheinend werden Spielhallen vorwiegend von ihren Kunden aus Wut und Enttäuschung überfallen, zumal die Relation zwischen Risiko und Gewinnchancen eher gering ist für den suchtkrank gewordenen Glücksspieler, der auch Gewinne zum Weiterspielen verwendet und so wieder verliert. Süchtig gewordene Glücksspieler fühlen sich von den Spielhallen manipuliert, betrogen und ausgebeutet.

Sinans Fähigkeiten zum reflektierenden Abwägen von Pro und Contra bzw. zum Reflektieren über sein Handeln war aus forensisch-psychiatrischer Sicht im Zeitraum seiner Straftaten massiv beeinträchtigt. Eine vernunftgemäße Reflexion über die Bedeutung seines Han­delns und dessen Folgen für sich selbst und andere Menschen war ihm im Tatzeitraum allem Anschein nach nur noch sehr beschränkt mög­lich.

Die Sinan vorgeworfenen Straftaten sind aus forensisch-psychiatrischer Sicht durchaus als Beschaffungsdelikte eines glücksspielsüchtig gewordenen Menschen zu kategorisieren; mit anderen Worten: seine Straftaten sind verursacht durch seine psychische Störung, sie sind krankheitsbedingt; Sinan hätte höchstwahrscheinlich diese Straftaten nicht begangen, wenn er nicht glücksspielsüchtig geworden wäre.

Und er wäre möglicherweise nicht glücksspielsüchtig geworden, wenn er nicht durch einen typischen Vater-Sohn-Konflikt psychisch nachhaltig labilisiert worden wäre. Denn auch andere junge türkisch-deutsche Berliner, die der 2. Migranten-Generation angehören und die süchtige Glücksspieler geworden waren, berichteten von ihren belastenden Problemen mit ihren als despotisch erlebten, patriarchalisch eingestellten Väter.

 

J

Inzwischen sind 3 Jahre vergangen. Vom Knast aus hatte Sinan Kontakt zu unserer Gruppe aufgenommen, offenbar von sich aus, um nicht wieder in seine Glücksspielsucht zurückzufallen. Nachdem zunächst eine Kollegin mit ihm therapeutisch gearbeitet hatte, übernahm ich vor etwa einem Jahr diese Aufgabe. Sinan war nun im offenen Strafvollzug, in einer sozialtherapeutischen Haftanstalt. Anfangs ging ich einmal wöchentlich abends nach seinem Feierabend dorthin zu ihm. Später kam er zu uns in die Therapiegruppe für Glücksspielsüchtige und Kokainabhängige.

Er schien inzwischen – sicher nicht nur wegen der vergangenen Zeit – erwachsener geworden zu sein. Ansonsten schien er aber die Haftzeit einigermaßen heil überstanden zu haben. Seine damalige Trauer war nicht mehr zu spüren, er war wieder zuversichtlicher. Was mir damals bei der Exploration für das Gutachten noch nicht aufgefallen war: er ist recht differenziert und denkt eigenständig. Er ist auch selbstsicherer geworden, allerdings mitunter auch etwas schicksalsergebener (mit dieser Strategie konnte er einiges an unnötigem Stress in der Haftanstalt leichter ertragen).

Inzwischen hat sich der Konflikt zwischen ihm und seinem Vater entspannt. Sinan hat – soweit dass ein Außenstehender beurteilen kann – Frieden mit seinem Vater und dessen Welt geschlossen: Er ist (wieder, wie in seiner Kindheit) Muslim geworden, nach meinem Eindruck gemäßigt, aber konsequent. Seine Konfession ist auch ein gewisser Schutz vor einem Rückfall in die Glücksspielsucht: Schon Mohammed (570-632) warnte, daß Wein und Glücksspiel „Greuel von Satans Werk“ seien. Glücksspiel ist für Moslems Sünde.

Auch der Vater ist nach meinem Eindruck weicher geworden. Die Familienkatastrophe kann ja gar nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sein; sicher hat auch er sehr gelitten. Vielleicht ist ihm auch bewußt geworden, welche Rolle er vermutlich bei der psychischen und psychosozialen Negativentwicklung gehabt hatte. (Sinan hatte das Gutachten gelesen; vielleicht hat er etwas daraus seinem Vater mitgeteilt.)

Über das Vergangene spricht Sinan wenig. Von Yasemin, seiner 1. Frau und großen Liebe hat er sich inzwischen offenbar auch innerlich distanziert; er deutete an, daß sie manchmal ganz schön zickig gewesen sei.

Inzwischen hatte Sinan sich mit Nuray, jetzt seiner zweiten Frau, angefreundet. Sie kennen sich schon seit ihrer Kindheit. Mehrmals war sie auch da, wenn ich abends Sinan in der offenen Haftanstalt besuchte. Sie ist m. E. eine recht kluge junge Frau, realistisch, auf eine andere Weise als Yasemin emanzipiert, anscheinend nicht so kapriziös wie Yasemin. Ein Kopftuch trägt sie normalerweise nicht. Sinan sagte, sie würde eins anlegen, wenn sie seinen Vater treffe, freiwillig – wie Sinan sagt, und aus Respekt vor seinem Vater. Sie überraschte mich mit ihren guten Kenntnissen der deutschen Literatur. (Dies stellte sich zufällig heraus: In seinem Regal lag ein Buch, das wie der Koran aussah. Da ich etwas daraus wissen wollte, fragte ich danach. Es war aber Hesses „Glasperlenspiel“, das sie ihm zum Lesen gegeben hatte.) – Sinans Vater akzeptiert Nuray voll. So unterstützt Sinans zweite Frau im Gegensatz zur ersten den Frieden zwischen Sinan und seinem Elternhaus.

Mir als Frauenrechtler (so haben meine Töchter mich erzogen) behagt es nicht so sehr, daß Sinan sie ähnlich behandelt wie sein Vater seine Mutter. Bspw. gehen die Männer voran, und sie hinterher. Warum läßt sie sich das gefallen? Warum steckt sie zurück und ordnet sich unter? Des Friedens wegen? Vielleicht ist dies die einzige Kompromißmöglichkeit, um in beiden Welten leben zu können. Nuray ist eine kluge Frau, hoffentlich ist sie auch glücklich genug.

Sinan hat inzwischen auch sein Gesellenstück abgeliefert und den Führerschein gemacht. Eine für ihn adäquate Arbeitsstelle hat er leider noch nicht. Seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind sicherlich noch schlechter als für andere. Er hatte davon geträumt, Möbel-Design zu studieren. Nach meinem Eindruck ist er künstlerisch begabt. Welche Möglichkeiten hat er zur Selbstverwirklichung, vor allem nach der Haft? Er scheint jetzt aber realistisch genug zu sein, um vorerst mit einem „kleinen Glück“ im Berufsleben zufrieden zu sein.

Seit einigen Monaten haben Nuray und er ein Töchterchen, jetzt sein großes Glück, das er sehr genießt. Hoffentlich hat sie es später als dritte Migrantengeneration leichter als ihr Vater.