Im Juni 2018 erschien im 5. Alternativen Drogen- und Suchtbericht der Beitrag „Rechtlos im Hilfesystem – Auswirkungen der sozialrechtlichen Ausschlussregelungen für Unionsbürger_innen im Kontext von niedrigschwelliger Drogenhilfe“. Er wurde von drei MitarbeiterInnen des Hamburger Trägers freiraum e.V. verfasst und bezieht sich speziell auch auf die Beobachtungen in der Harburger Drogenhilfeeinrichtung abrigado. Wir veröffentlichen ihn hier als Landesstelle daher mit freundlicher Genehmigung der VerfasserInnen auch als Gastbeitrag und setzen uns mit der darin beschriebenen Situation und Problematik in unseren Fachgremien ebenfalls auseinander.

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Rechtlos im Hilfesystem – Auswirkungen der sozialrechtlichen Ausschlussregelungen für Unionsbürger_innen im Kontext von niedrigschwelliger Drogenhilfe

Zusammenfassung:

Durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, verschärfen sich die (Über)lebensbedingungen von zugewanderten erwerbslosen drogengebrauchenden Unionsbürger_innen. Der Fokus dieses Artikels liegt auf Menschen, die aus Osteuropa nach Deutschland immigriert sind. Gab es bis zur Gesetzesverschärfung im Dezember 2016 noch Spielräume in der Beantragung von Sozialleistungen für diese Personengruppe, existiert nunmehr nur noch ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen und Kostenerstattungen für die Rückreise in das Herkunftsland. In der Arbeit zeigt sich jedoch täglich, dass es Betroffene aus unterschiedlichsten lebensweltlichen Gründen vorziehen, über Monate, wenn nicht Jahre, völlig mittellos und in bitterer Armut in Deutschland zu bleiben. Mitarbeitende von niedrigschwelligen Hilfseinrichtungen stehen vor oftmals unlösbaren Aufgaben.

Rechtliche Ausschließung von Migrierten aus dem Sozialleistungssystem

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Mehr als 22 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. (…) In den meisten Jahren stammte die Mehrheit der Zuwandernden aus den Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) bzw. aus Europa.“ (Länderprofil Deutschland 2017, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück (Hrsg.))

In der alltäglichen Arbeit einer Hamburger Beratungsstelle mit integriertem Drogenkonsumraum lässt sich seit knapp 10 Jahren eine Zuwanderung von Menschen, vor allem aus EU -Ostmitgliedsstaaten, Staaten der ehemaligen UdSSR sowie der ehemaligen SFR Jugoslawien, feststellen. So sind im Jahr 2017 nach Auswertung der Basisdokumentation von freiraum hamburg e.V. knapp 40% der Nutzenden des Beratungsangebotes der eben genannten Personengruppe zuzurechnen. Mit der Zunahme dieser Hilfesuchenden und der verschärften Gesetzgebung aus dem Dezember 2016 verändern sich strukturelle und adressatenbezogene Bedingungen und Anforderungen in der niedrigschwelligen Drogenhilfe.

Der Gesetzgeber regelt mit der Neufassung, welche Personengruppen von Leistungen nach § 7 Abs.1 SGB II und SGB § 23 XII ausgeschlossen sind. Diese Ausschlussregelungen treffen zugewanderte Drogengebrauchende in besonderer Weise. Die Lebensbedingungen dieser Personengruppe führen oftmals zu einem physischen und psychischen schlechten Allgemeinzustand, gepaart mit Wohnungslosigkeit und keinem regulären Einkommen. Durch die Gesetzesverschärfung oder aufenthaltsrechtlichen Problematiken stehen ihnen existenzsichernde Sozialleistungen ebenfalls nicht zu. Diese Menschen befinden sich ohne erkennbare Perspektive in einem Kreislauf aus bitterer Armut, Drogenkonsum und einem sich verschlechternden Gesundheitszustand.

Bei freiraum hamburg e.V. trifft diese Beschreibung auf einen nicht geringen Teil der osteuropäischen Besucher_innen zu. Unter diesen Umständen einer Erwerbsarbeit nachzugehen, um den eigenen finanziellen Bedarf komplett abdecken zu können oder zumindest einen Anspruch auf ergänzende Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu erlangen, ist nahezu unmöglich. In Beratungsgesprächen wird immer wieder deutlich: Menschen, die sich in einer solch prekären Lebenslage wiederfinden, müssen oft (illegale) ausbeuterische und unmenschliche Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen, so dass ihnen Arbeitnehmerrechte ebenfalls nicht zustehen – eine doppelte Entrechtung. Schlimmstenfalls werden Pässe eingezogen und vereinbarte Lohnzahlungen nur teilweise bzw. nicht bezahlt.

Den Betroffenen bleibt mitunter nur Sexarbeit, Betteln oder Flaschensammeln sowie das Aufsuchen von Essens- und Kleiderausgabestellen, um überleben zu können.

Verlieren Unionsbürger_innen ihre legale Erwerbsarbeit und sind somit leistungsberechtigt, berichten sie im Arbeitsalltag über große Probleme im Umgang mit Behörden: Anträge auf Leistungen werden gar nicht erst angenommen oder rechtswidrig abgelehnt. Hilfesuchende müssen folglich häufiger von Mitarbeitenden zu Ämtern und Behörden begleitet werden, vermehrt werden Widerspüche gegen Bescheide eingelegt. Zunehmend sind Eilklagen vor den Sozialgerichten einzureichen, um die Ansprüche der Betroffenen durchzusetzen.

Wenn kaum noch eine Möglichkeit besteht, den eigenen Lebensbedarf auf legale Art und Weise zu finanzieren, werden Menschen ursächlich auf Grund ihrer Armut kriminalisiert. Immer wieder werden Besucher_innen von freiraum Hamburg e.V., z.B. aufgrund von wiederholtem Schwarzfahren und Diebstählen geringwertiger Sachen (Lebensmittel, Hygieneartikel, etc.), inhaftiert, da auf Grund mangelnder Mittel verhängte Geldstrafen nicht bedient werden können. Die Neue Richtervereinigung stellte entspechend fest: „Die Abschaffung von Sozialleistungen an besonders schwache Mitmenschen untergräbt die deutsche Rechts- und Verfassungsordnung (…) Die Regelung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzeptieren müssen, um hier zu überleben. (…) Die Regelung legt Axt an das Fundament unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung. Nach dem einleuchtenden Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wurzeln existenzsichernde Leistungen unmittelbar in der Menschenwürde. Bisher galt, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft dasselbe Recht auf ein Leben in Würde in sich trägt. Die Neuregelung ersetzt dieses tragende Prinzip durch sozialrechtliche Apartheid.“ (www.neuerichter.de; 24.11.2016)

In Hamburg wird das Konzept des „sozialrechtlichen Aushungerns“ (Der Paritätische Gesamtverband, 2017) auf die Spitze getrieben. So wird obdachlosen Osteuropäer_innen oftmals selbst der im Winter dringend benötigte Erfrierungsschutz durch eine Aufnahme in das Winternotprogramm verwehrt. Bis Mitte Dezember 2017 wurden laut Hamburger Abendblatt durch die Innenbehörde 108 Obdachlosen das Freizügigkeitsrecht abgesprochen und 20 dieser Personen abgeschoben. (vgl. Binde, 2017) „Insgesamt sind in den vergangenen zwölf Monaten knapp 800 Menschen zur Ausreise aufgefordert worden, im diesjährigen Winternotprogramm wurde bereits mehr als 100 Menschen der Zutritt verwehrt.“ (ebd.).

Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU legt fest, welche Voraussetzungen für den Entzug dieser Freizügigkeit erfüllt sein müssen: „Es können vielmehr nur solche Verhaltensweisen den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigen, die eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft darstellen. Eine Verletzung der ungeschriebenen Regeln des menschlichen Zusammenlebens reicht hierfür grundsätzlich nicht aus. Auch eine strafbare Handlung, die zu einer Verurteilung führt, reicht für sich genommen nicht aus, um das Vorliegen einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinn des Unionsrechts zu begründen (vgl. Nummer 6.2.1). Es muss zudem eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung gewichtiger Rechtsgüter vorliegen.“ (Abschnitt 6 AVV FreizügG/EU, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU (AVV zum FreizügG/EU)).

Haben demnach 108 Obdachlose in Hamburg besonders schwerwiegende Beeinträchtigungen gewichtiger Rechtsgüter begangen? Zuschreibungen wie Hilflosigkeit (SGB II § 7) oder Krankheit (SGB XII § 23), die laut Gesetzestext einer Unterstützung bedürfen, treffen auch für diese Personengruppe zu. Ebenfalls halten sich diese Menschen tatsächlich in Deutschland auf und haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt hier, auch wenn er in der Regel nicht durch eine offizielle Meldeadresse belegt werden kann. Der Ausschluss scheint sich also nur aufgrund der Herkunft begründen zu lassen. Dies ist bemerkenswert, wenn man sich die Ziele der europäischen Union vor Augen hält: „Förderung (…) des Wohlergehens ihrer Bürgerinnen und Bürger, (…) Eindämmung sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung (…) Alle EU-Mitgliedsländer teilen die Werte der EU: Sie streben eine Gesellschaft an, in der Inklusion, Toleranz, Rechtstaatlichkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung selbstverständlich sind“ – ( www.europa.eu).

Exkurs: die sogenannten europäischen „Nichtbürger_innen“

Eine besondere Form der Diskriminierung stellt die Lage der sogenannten „Nichtbürger_innen“ Estlands und Lettlands da. Auch im Jahr 2017 ist es der Europäischen Union auf politischer Ebene nicht gelungen, das Problem der sogenannten lettischen und estnischen „Nichtbürger_innen“ zu lösen. Zwar verfügt diese Gruppe über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Lettland und Estland, besitzt aber weder die jeweilige Staatsangehörigkeit noch eine andere, sondern erhält lediglich einen „Alien“ – Passport; eine massive Einschränkung von Bürger- sowie Personenrechten.

„Nichtbürger sind Menschen, die weder eine lettische, noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzen. Sie erhalten zwar Reisepässe, werden aber in mehr als 70 Punkten anders behandelt als lettische Staatsbürger.“ Der Nichtbürger  „(…) leidet unter erschwerten Ausreisebedingungen und ist vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen.

Der Status wurde 1991 durch die lettische Regierung eingeführt. So wurden damals über 700.000 Menschen zu Nichtbürgern – die Meisten davon ethnische Russen. Stand Januar 2015 gibt es in Lettland noch knapp über 260.000 Nichtbürger, das sind etwa zwölf Prozent der lettischen Gesamtbevölkerung.“ (vgl. Die Welt, 23.02.2015)

Ausschließung aus dem Leistungsbezug = Ausschließung aus dem Hilfesystem

Der Zugang zu dringend notwendiger medizinischer und pflegerischer Versorgung, zur Substitution sowie zu stationären Entgiftungsbehandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen steht Menschen ohne eigenes Erwerbseinkommen und soziale Leistungsansprüche aufgrund fehlender Krankenversicherungen nicht zu. Eine Notfallbehandlung im Krankenhaus ist theoretisch gewährleistet, benötigt in der Praxis häufig Begleitung durch Fachpersonal und ein starkes Insistieren auf die Einhaltung dieses Grundrechtes. Gerade im Hinblick auf intravenösen Drogengebrauch ist es ein unhaltbarer Zustand, dass mögliche chronische Erkrankungen wie HIV oder Hepatitis C unbehandelt bleiben.

Betrachtet man in diesem Kontext die im April 2016 von der Bundesregierung beschlossene Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C sowie anderer sexuell übertragbarer Infektionen (BIS 2030), stellt sich die Frage, wie es zu rechtfertigen ist, dass einer in Deutschland lebenden Personengruppe z.B. folgende Möglichkeiten nicht zugänglich sind:

  • Postexpositionsprophylaxe (PEP)
  • eine (möglichst frühzeitliche) HIV-Behandlung,
  • Hepatitis A und B Impfungen
  • Hepatitis C Behandlung, etc.
  • Behandlung von STIs

Diese Frage stellt sich insbesondere, da sich im östlichen Teil der WHO-Euro-Region die HIV-Epidemie weiterhin stark ausbreitet (www.aidshilfe.de ; 17.10.2017)  „Die Behandlungsraten sind im weltweiten Vergleich sehr niedrig. Injizierender Drogenkonsum und fehlende Präventionsprogramme, wie beispielsweise die Substitutionstherapie oder Nadel- und Spritzentauschprogramme, sind der Hauptgrund für die hohe HIV-Prävalenz.“ (BIS 2030). Das von der Bundesregierung formulierte Ziel: „(…) dass alle Betroffenen Zugang zu Prävention, Behandlung, Pflege, Versorgung und sozialer Absicherung haben.“ (ebd.), ist mit der momentanen Gesetzgebung nicht umsetzbar. Hier wird eine teilweise vermeidbare gesundheitliche Gefährdung Betroffener, Angehöriger sowie Sexualpartner_innen billigend in Kauf genommen.

Für die Betroffenen bleibt in der Summe ein unfreiwilliges Verharren in einer perspektivlosen Situation, die durch eine staatlich angestrebte Rückführung in Geburtsländer nicht zu verbessern zu sein scheint. In einem Interview berichtete ein Klient, der seit neun Jahren in Hamburg auf der Straße lebt: „Zuhause hatte ich oft nichts zu essen, hier muss ich wenigstens nicht hungern.“

Folgen für die Praxis

Die Auswirkung der momentanen Gesetzgebung betrifft neben den Opfern in zunehmendem Ausmaß auch die Mitarbeiter_innen von Beratungsstellen und Hilfeeinrichtungen, insbesondere diejenigen, die sich der Parteilichkeit für Klientel und Menschenrecht verbunden fühlen. Da sich die oben geschilderten Problemlagen nicht von alleine lösen, verschärft sich insbesondere die Situation in niedrigschwelligen und offenen Einrichtungen und verändert die bisherige sozialarbeiterische und pflegerische Praxis sowie den Arbeitsalltag rasant. Hinzu kommt der Besucher_innenzuwachs mit erheblichem Beratungs- und Unterstützungsbedarf und damit einer permanent steigenden Arbeitsbelastung in einem Arbeitsbereich, der von jeher personell, räumlich und in der Regel auch mit extrem knappen Sachmitteln ausgestattet ist. Die psychische Belastung, die aus den beschriebenen gesetzlichen Bedingungen entsteht, ist sowohl für die zu beratenden als auch für die beratenden Menschen gravierend. Die Menschen verelenden begleitet durch Fachpersonal, dem das benötigte „Handwerkszeug“ nicht mehr zur Verfügung steht. Die eigentliche Aufgabe niedrigschwelliger, lebensweltorientierter Sozialer Arbeit, Menschen auf dem Weg in ein gelingenderes Leben zu begleiten und zu unterstützen, ist nicht mehr zu realisieren. Letztlich wird die niedrigeschwellige Drogenarbeit zur Exklusions- und Elendsverwaltung degradiert und mit den betroffenen Personen und ihren mannigfaltigen Problemen strukturell alleine gelassen.

Auf der Fachtagung „Die Segel setzen – Akzeptierende Drogenarbeit 2.0“ im November 2017 in Potsdam zeigte sich sehr deutlich, dass die zunehmende Verelendung dieser Personengruppe nicht nur in Hamburg zu beobachten ist, sondern sich auch in vielen anderen Großstädten und Ballungsräumen in Deutschland zeigt. Umso wichtiger ist es, das dieses Thema endlich mehr bundesweite Beachtung findet.

Schlussendlich sind für eine fachgerechte Soziale Arbeit folgende Grundvoraussetzungen von Nöten:

  • Zugang zum Wohnungshilfesystem für alle Hilfesuchenden
  • Eine obligatorische Krankenversicherung/umfassende Krankenversorgung
  • Beendigung staatlicher Rechtsbrüche
  • menschenrechtskonforme Gesetzesauslegung
  • Bedarfsgerechte Ausstattung der betroffenen Einrichtungen mit Personal und Sachmitteln
  • Konzeptionen, die fachliche Arbeit ermöglichen und nicht behindern bzw. untergraben

Für eine gelingende Soziale Arbeit mit dieser Personengruppe ist ein Zugang zum SGB erforderlich. Unter den derzeitigen Umständen ist eine den Artikel 1 des GG würdigende Arbeit nicht mehr möglich.

Autoren:

Wibke Schumann

Abrigado, freiraum Hamburg e.V., Diplom Sozialpädagogin, Case-Managerin

Jonny Schanz

Abrigado, freiraum Hamburg e.V., Diplom Sozialpädagoge (FH)

Christian Richter

Abrigado, freiraum Hamburg e.V., Diplom Sozialpädagoge (FH). Schuldnerberater, KISS- und kT-Trainer, Lehrbeauftragter an der Ev. Hochschule Hamburg.