Süchtiges Verhalten und Gemeinwohl aus ärztlicher Sicht
von Bert Kellermann
„Geht es um Missbrauch oder Sucht, besteht stets die Gefahr, dass Patient und Arzt sich gegenseitig aus dem Weg gehen“ – dies schrieb 1975 der seinerzeit anerkannteste psychiatrische Lehrbuchautor, W. Schulte. Damals begegneten sich Arzt und Patient hauptsächlich im Krankenhaus, in der Regel im späten Stadium der Suchtkrankheit. Inzwischen wurde die suchtmedizinische Versorgung sowohl im stationären als auch im ambulanten und tagesklinischen Bereich teilweise erheblich verbessert und erweitert. Bspw. Alkoholabhängige kommen jetzt bereits in einem wesentlich früheren Stadium zum (Qualifizierten) Entzug ins Krankenhaus, der Krankheitsverlauf ist dadurch jetzt weniger maligne, die Prognose meist erheblich günstiger. In der Suchtmedizin arbeiten Psychiater, Psychologen und Sozialpädagogen eng zusammen, die Leitungsverantwortung liegt bei den Ärzten.
Suchtfolgeschäden
Wie manche Nikotinsüchtige öffentlich demonstrieren, kann man durchaus mit einer Sucht leben, geistig leistungsfähig bleiben und 90 Jahre alt werden, wenn die Sucht-Folgeschäden gering geblieben sind. Auch manche substituierte Drogenabhängige schaffen es mit ärztlicher Hilfe, ihre Sucht über längere Zeit zu kompensieren.
Dies ist jedoch eher selten zutreffend. Seit langem bekannt sind die oft schweren somatischen Folgeschäden von Alkoholabhängigkeit und i.v.-Opioidsucht. Aber auch auf die somatischen Folgeschäden von Nikotinsucht und von Ess-Sucht („Adipositas“) wurde insbesondere in der letzten Zeit wiederholt in medizinischen Veröffentlichungen hingewiesen.
Die psychischen und psychosozialen Sucht-Folgeschäden werden im Vergleich zu den somatischen immer noch kaum beachtet, obwohl sie gravierender sind. Lediglich auf die suchtbedingten immensen Kosten für die öffentlichen Kassen ist öfters hingewiesen worden. Die immer noch bedeutendste Suchtform, die Alkoholabhängigkeit, führt jedoch weit eher zu psychosozialen Schäden in Beruf und Familie als zu somatischen Folgeschäden. Teure Suchtformen wie Opioidabhängigkeit, Glücksspielsucht und Kaufsucht führen wegen des hohen Geldbedarfs u. a. zur Verschuldung und dadurch oft auch zu Beschaffungskriminalität. Dass durch die – der Glücksspielsucht vergleichbaren – Gewinnsucht („Gier“, Geld als Selbstzweck) mancher Spekulanten sogar die Weltwirtschaft und damit das weltweite Gemeinwohl massiv gefährdet und geschädigt werden kann, ist spätestens seit der Nick-Leeson-Affäre 1995 erkennbar gewesen. Eine relativ neue Suchtform ist das süchtige Internet-Rollenspiel (Mediensucht bzw. Computerspielsucht), von der insbesondere Schulkinder und junge Erwachsene betroffen sind, oft mit katastrophalen biografischen Folgen wie Scheitern der Schulkarriere. Zu diesem relativ neuen Suchtproblem sagte Senator Wersich im Januar 2010: „Etwa ein Viertel der Jugendlichen berichtet, durchschnittlich rund 20 Stunden pro Woche spielend vor dem PC zu verbringen und häufig nicht aufhören zu können. (…) Bedenklich ist dabei, dass dies nach eigener Aussage der Jugendlichen ihre schulischen Leistungen wie auch ihr körperliches Wohlbefinden beeinträchtigt.“ Mit weiteren neuen Suchtformen muss gerechnet werden. Das vorrangige Ziel der Hilfen im Suchtbereich ist die Schadensminderung („harm reduction“) nicht nur im somatischen, sondern auch im psychosozialen Bereich.
Diagnose Sucht
Die suchtmedizinische Grundversorgung ist noch im Anfangsstadium. Behindert wird die notwendige umfassende suchtmedizinische Weiterentwicklung durch die mangelhafte offizielle Definition des Suchtbegriffs, bei dem die individuellen somatischen Folgeschäden betont sind. Denn sowohl für die Diagnose und die Prävention als auch für die Therapie der Suchtkrankheit ist ein möglichst eindeutiger und umfassender Suchtbegriff erforderlich. Insbesondere muss die inkompetente Vorstellung aufgegeben werden, ausschließlich durch Substanzkonsum könne eine Sucht („Abhängigkeitssyndrom“) erzeugt werden.
Die „Wahl“ des jeweiligen (stofflichen oder nicht stofflichen) Suchtmittels ist für den Einzelnen von vielen Faktoren abhängig, hauptsächlich von der Verfügbarkeit, aber auch vom Zufall, ähnlich wie bei der „Partnerwahl“. Früher standen als Suchtformen die Alkoholabhängigkeit und die Opioidsucht im Vordergrund. Altbekannte Suchtformen wie die Glückspielsucht (Gewinnsucht) und die Kaufsucht sind durch das jetzt umfangreiche Angebot an Glücksspielen mit hohem Sucht- und Schadenspotenzial bzw. durch das derzeit von den Wirtschaftspolitikern ausgesprochen erwünschte Konsumverhalten („Kauflaune“) erheblich häufiger und psychosozial schädlicher geworden. Ebenso ist durch das Angebot im Internet die Pornosucht wesentlich häufiger und perverser geworden; bspw. ist das süchtige Sammeln von Kinderpornografie wegen der dadurch verursachten Kindesmisshandlung derzeit nach Pressemitteilungen ein massives Problem; ein Teil dieser Männer soll nach Therapeutenbericht primär nicht pädophil gewesen sein. Ess-Sucht („Adipositas“, „Fettsucht“) insbesondere bei Jugendlichen sind in den letzten Jahrzehnten wesentlich häufiger geworden und werden (wieder) häufiger als süchtiges Verhalten bzw. Suchtform klassifiziert, wie auch Magersucht („Hungern ist eine harte Droge“) und Bulimie.
Angesichts dieser Entwicklung sind die diagnostischen Kriterien, die in der ICD-10 (F) für den Suchtbegriff („Abhängigkeitssyndrom“) festgelegt sind, nicht mehr praxistauglich. Sogar bei einer der häufigsten Sucht-Form, der Nikotinabhängigkeit, sind die erforderlichen ICD-10-Kriterien erst im Spätstadium erfüllt, wenn es für eine therapeutische Hilfe zu spät ist. Es ist zu befürchten, dass der psychiatrische Teil der ICD-11, die in ca. 5 Jahren zu erwarten ist und dann wieder für ca. 20 Jahre verbindlich sein wird, keine durchgreifende Verbesserung bringen wird. Dadurch werden präventive und therapeutische Maßnahmen in der Suchthilfe und damit die notwendige Weiterentwicklung der Suchtmedizin erheblich blockiert.
Obwohl die Begründer der modernen Psychiatrie, Kraepelin und Bleuler, bereits vor über 100 Jahren in ihren Lehrbüchern die Alkoholabhängigkeit, damals die häufigste und maligneste Suchtform, als psychische Krankheit auffassten, wurde sie weiterhin verbreitet wie im Mittelalter als Laster und damit als selbstverschuldet und moralisch vorwerfbar angesehen. 1968 wurde Alkoholabhängigkeit durch das höchstrichterliche Urteil des Bundessozialgerichts als (psychische) Krankheit i. S. der Krankenversicherung definiert; dennoch erkennen weiterhin nicht selten die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen lediglich für die somatischen Folgestörungen ihre Zuständigkeit an. Zwar haben die Rentenversicherungen einen Teil der Therapiefinanzierung übernommen, jedoch hauptsächlich wegen der Erwerbsfähigkeit. Für die Weiterentwicklung der Suchtmedizin ist es erforderlich, dass die Krankenkassen ihre Leistungspflicht bei Sucht (bspw. Nikotinsucht oder Esssucht) anerkennen.
1964 hat die WHO den Suchtbegriff definiert, allerdings aus pharmakologischer Sicht und nicht auf der Basis der damals bereits vorhandenen Erkenntnissen der psychiatrischen Suchtmedizin. Dadurch entstand der verbreitete Irrtum, dass Sucht ausschließlich durch Substanzen erzeugt werden könne und insbesondere durch ein körperliches Entzugssyndrom gekennzeichnet sei. Allerdings standen damals die durch Alkoholabhängigkeit verursachten Gesundheitsprobleme sowohl für den Einzelnen und seine Mitmenschen als auch für das Gemeinwohl im Vordergrund.
Dieser Mangel ist seither nicht korrigiert worden, trotz der Erfahrungen in der suchttherapeutischen Praxis. So findet sich das „Abhängigkeitssyndrom“ (d. h. Sucht) in der ICD-10 (F) lediglich in der Kategorie der Störungen durch (psychotrope) Substanzen. Es geht jedoch einem süchtig gewordenen Menschen eigentlich nicht um den Konsum einer Substanz wie Alkohol, sondern um die (psychotrope) Wirkung dieser Substanz. Ähnliche (psychotrope) Wirkungen können auch durch bestimmte Verhaltensweisen erzeugt werden. Bspw. hat Glücksspielen ähnliche Wirkungen wie Kokain oder Psychostimulantien. Insbesondere durch die moderne neurobiologische Forschung wurde bestätigt: „Dem Gehirn ist es egal, ob die süchtige Erregung von einem Suchtmittel oder einer Tätigkeit erzeugt wird.“ (Böning 1989). Dies bedeutet: es geht einem süchtig gewordenen Menschen um die durch den Konsum seines Suchtmittels (seiner stofflichen oder nicht stofflichen Droge) erhoffte psychotrope Wirkung (stimulierend, euphorisierend, antidepressiv, anxiolytisch u.ä.)
Sucht ist psychische Abhängigkeit, die körperliche Abhängigkeit ist eine eigenständige Störung. Sucht ist ein psychopathologisches Phänomen wie Angst, Wahn, Depression, Zwang etc. Sie ist gekennzeichnet durch ein imperatives Verlangen nach einem bestimmten psychischen Zustand und führt zu süchtigem Verhalten (letztlich Suchtmittelkonsum), das auf mehr oder minder irrationalen Selbsteinflüsterungen basiert (bspw. „je mehr, desto besser“, „gleich bekomme ich den Kick“).
Insbesondere durch die – früh verstorbene – Charité-Psychologin S. Grüsser wurde der Fach-Terminus „Verhaltenssucht“ eingeführt. Dadurch ist der Suchtbegriff klarer geworden, was für Diagnose und Therapie von erheblicher Bedeutung ist. Denn durch die gemeinsame Suchttherapie von Alkoholikern und Glücksspielern in einer Therapiegruppe wurde (wieder) deutlich, dass Sucht eine Verhaltensstörung als Folge einer psychischen Fehlentwicklung ist, die mit süchtigen Denkstörungen und Einstellungen zusammenhängt. Die Änderung des süchtigen Verhaltens ist bei allen – substanzgebundenen wie nicht substanzgebundenen – Suchtformen das Therapieziel (bspw. konsequente Beendigung des Alkohol- oder Nikotinkonsums).
Durch die Sucht kommt es zu einer Störung der Verhaltenskontrolle beim Suchtmittelkonsum. Das früheste und sicherste Sucht-Symptom ist das Kontrollverlustphänomen; für Diagnose und Therapie ist dies das wichtigste Sucht-Symptom. Bspw. einem Alkoholiker gelingt es bekanntlich kaum, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren (d. h. mäßig zu trinken); süchtiges Verhalten ist ein unzureichend geregeltes (bzw. kontrolliertes) Verhalten: Im Verlaufe einer Suchtkrankheit wird es dem Patienten zunehmend unmöglicher, seinen Suchtmittel-Konsum hinsichtlich Dosis und/oder Frequenz zu regeln, weil das intensive Verlangen nach dem individuellen Suchtmittel (genauer: nach dessen erhoffter psychotroper Wirkung) zunehmend weniger zu befriedigen ist. Die bereits erlittenen und mit hoher Wahrscheinlichkeit noch zu erwartenden negativen Konsequenzen des Suchtmittelkonsums werden dabei ausgeblendet. Der Übergang vom normalen zum süchtigen Verhalten ist fließend. Der Suchtmittelkonsum wird zunehmend zum Selbstzweck und wichtiger als die vorherigen persönlichen Werte.
Suchtmedizinische Versorgung und Sucht-Diagnose
Ärztliche Erfahrungen in der Suchttherapie sind zum Teil wieder verloren gegangen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben bedeutende Ärzte wie Bleuler, Kraepelin und Nonne darauf hingewiesen, dass wegen des Kontrollverlustphänomens der einfachste und sicherste Weg, seine Sucht zu überwinden, der Entschluss zur „Totalabstinenz“ bzw. zum alkoholfreien Lebensstil ist. Diese Methode hat sich auch bei den nicht substanzgebundenen Suchtformen wie Glückspielsucht (Gewinnsucht) bewährt. Bei manchen Suchtformen wie Ess-Sucht, Kaufsucht oder Computersucht ist sie allerdings lediglich in modifizierter Form (partielle Abstinenz), d. h. durch striktes Einhalten von bestimmten Konsum-Regeln und von Verhaltenskontrolle (einschließlich Beachtung der Gefühle und Gedanken) anwendbar, was wesentlich schwieriger ist als bspw. das Einhalten von Regeln des Verhaltens im Straßenverkehr.
Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, dass in der ärztlichen Praxis und auch im Krankenhaus gute Möglichkeiten bestehen, mit relativ geringem Zeitaufwand und trotzdem effektiv durch motivierende Gesprächsführung zu einem frühen Zeitpunkt das Suchtproblem eines Patienten anzusprechen. Falls realisierbar, empfiehlt sich die Überweisung in eine spezielle suchtmedizinische Institution wie eine Suchtambulanz oder Suchtberatungsstelle. Wenngleich dadurch nur selten sofort eine dauerhafte Verhaltensänderung zu erzielen ist, wichtig ist der möglichst frühe Beginn der professionellen Hilfe bei der Suchtüberwindung (das „Tiefpunkt-Dogma“ ist weitgehend obsolet). Durch regelmäßige Teilnahme an einer (evtl. professionell begleiteten) Sucht-Selbsthilfegruppe kann ein süchtig gewordener Mensch nach einem Rückfall in das süchtige Verhalten sich rasch wieder stabilisieren.
Die Belastung des Gemeinwohls durch Suchtprobleme kann nur durch Ausbau der suchtmedizinischen Grundversorgung reduziert werden (das wäre eine „intelligente Sparmaßnahme“). Denn durch gezielte und notfalls offensive suchtmedizinische Maßnahmen, insbesondere durch Sekundärprävention als therapeutische Frühintervention kann irreparablen Suchtfolgeschäden vorgebeugt werden. Bisher existiert nur für einige spezielle Suchtformen bereits eine zunächst ausreichende suchtmedizinische Versorgung.
Für die gezielte Sucht-Prävention ist relevant: Je ungeregelter und liberaler ein Suchtmittel („Droge“) mit hohem Suchtpotenzial und/oder hohem Schadenspotenzial in einem Land verfügbar ist, desto häufiger und intensiver wird es konsumiert, und desto mehr Bürger werden süchtig. Bspw. war die Glücksspielsucht noch in den 1970er Jahren eine Rarität, da das Angebot an Glücksspielen mit hohem Suchtpotenzial damals noch gering war, nachdem bereits 1872 alle deutschen Casinos geschlossen worden waren. Die jeweilige Regierung ist somit verantwortlich für die Regulierung des Suchtmittelangebots. Totalverbot eines Suchtmittels (Prohibition) ist nur sinnvoll, wenn dieses realisiert werden kann, ohne erhebliche Kriminalität wie Schmuggel oder Schwarzmarkt zu provozieren. Das BtmG hat sich anfangs bewährt: die Zahl der morphinsüchtigen Ärzte und Apotheker nahm in den 1930er Jahren erheblich ab. Derzeit scheint hingegen die Prohibition von Cannabisprodukten mehr zu schaden als zu nützen, da sie zu illegalem Anbau von besonders wirksamem Cannabis im Inland geführt hat. Die Verfügbarkeit der drei legalen Drogen Nikotin, Alkohol und Glückspiel wird durch Steuern eingeschränkt, was zu Staatseinnahmen von jährlich etwa 21 Mrd. Euro führt; diese Einnahmen wurden zunehmend als Selbstzweck angesehen und nicht – wie oft von Ärztetagen u. a. gefordert – für die Suchttherapie eingesetzt.
Für das Gemeinwohl ist relevant: Durch eine kluge staatliche Regelung des Suchtmittelangebots und Ausbau einer offensiven suchttherapeutischen Frühintervention sind die individuellen und sozialen Sucht-Folgeschäden wirksam zu minimieren. Dafür ist allerdings ein klarer und realitätsadäquater Suchtbegriff – insbesondere im psychiatrischen Teil der ICD-11 – erforderlich, der auch – wie bei einer Schwangerschafts-Diagnose – das frühe Stadium der fortschreitenden Suchtentwicklung einschließt. Vorläufig bietet sich der „empirisch-pragmatische Suchtbegriff“ an. Den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Sucht hat die Charité-Psychologin Ch. Mörsen (2008) wie folgt zusammengefasst: „Forschungsergebnisse aus der Lerntheorie und Neurobiologie legen nahe, dass im Rahmen eines biopsychosozialen Modells zur Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens gleichermaßen stoffgebundene wie stoffungebundene Abhängigkeitserkrankungen in den selben zentralnervösen Mechanismen verankert sind.“
Literatur beim Verfasser, Veröffentlicht im „Hamburger Ärzteblatt“ April 2010, E-Mail: bertkellermann@gmx.de